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Wie schrecklich es sein kann und welche Schönheit darin liegen mag, eine junge Frau zu sein, die einen eigenen Willen hat und sich nicht länger den Wegen fügen will, die andere ihr vorgeben, zeigt mit „Wildling“ ein eindrucksvoller neuer Beitrag zum gegenwärtigen Horrorkino.

Wildling (2018)

Eine Filmkritik von Lars Dolkemeyer

Wild und schön

Wenn zwei der überragenden Horrorfilme der letzten Jahre, Raw (2016) und Der Nachtmahr (2015), auf die dunklen Nadelwälder des US-amerikanischen Nordens treffen, dann entsteht das Potenzial für ein hervorragendes Debüt des Regisseurs Fritz Böhm. Aber gelingt es Wildling auch, dieses Potenzial mit der nötigen Energie zu entfalten?

Am Anfang gibt es nur die kleine Anna (zunächst: Arlo Mertz und Aviva Winick), ihren Daddy (Brad Dourif) und ein einfach eingerichtetes Dachbodenzimmer, aus dessen Fenster ein Wald zu sehen ist, so weit das Auge reicht. Anna, so wird ihr von ihrem Daddy eingeschärft, darf niemals dieses Zimmer verlassen, damit der Wildling nicht kommt und sie frisst. Als jedoch über die Jahre ihr Gesundheitszustand schlechter wird, muss die junge Frau, nun gespielt von Bel Powley, in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Dort stellt sie fest: Es gibt eine ganze Welt jenseits ihres Zimmers, von der sie nichts wusste. Doch warum hielt Daddy sie so lange dort gefangen? Und warum hat sie nur so einen Heißhunger auf Fleisch?

Schnell wird klar, dass Anna nicht etwa in Gefahr ist, vom Wildling gefressen zu werden, sondern dass im Gegenteil alle eigenartigen Schutzmaßnahmen des seltsamen Mannes, den sie nur als Daddy kennt, vielmehr dazu dienten, etwas in Anna zu unterdrücken, sie gerade vor dem zu bewahren, was sich in ihr entwickeln und eines Tages ans Licht treten könnte. Seit ihrer ersten Menstruation erhält sie täglich Spritzen, um ihre Entwicklung zur erwachsenen Frau, wenn nicht aufzuhalten, so doch zu verlangsamen. Aber dass es so etwas wie Menstruation überhaupt gibt und es sich dabei keineswegs um eine Krankheit handelt, erfährt Anna erst im Kontakt mit der äußeren Welt.

Vieles erscheint ihr eigenartig und fremd, mit nervösem Blick saugt die junge Frau alle neuen Eindrücke auf. Brillant vereinen sich im Spiel von Bel Powley dabei fassungslose Neugier mit dem tiefen Misstrauen eines anderen Blicks auf die Welt, die beide zunehmend durchstoßen werden von einem viel älteren Wissen, von einem gänzlich anderen Bewusstsein, das im dezenten Ausdruck Powleys langsam lebendig wird.

Doch auch in der Welt außerhalb ihres Dachbodenzimmers bleibt vieles ein Mysterium und darin liegt eine der großen Stärken von Wildling: Während Daddy ihr nie erklärt hat, was es heißt, erwachsen zu werden, so findet Anna auch in der nur scheinbar freien und grenzenlosen Welt jenseits der Gefängniskammer des alten Mannes wenig Erhellung: Ihre Bezugsperson, Sheriff Ellen Cooper (Liv Tyler), versucht nach Kräften, die Jahre der fehlenden Jugend für Anna aufzuholen, doch auch sie kann ihr nur zeigen, dass es für die Menstruation Tampons gibt und dass Beine rasiert gehören und dass die Welt als junge Frau eben so aussieht. Eine echte Erklärung, was das alles bedeuten mag, kann auch sie nicht bieten. Der Film positioniert Ellen damit in wunderbar gefilmten Sequenzen irgendwo zwischen der fehlenden mütterlichen Fürsorge und der verschwiegenen Hilflosigkeit des alten Mannes.

Außerhalb der Dachkammer sind die Wege kaum weniger eng vorgezeichnet als in der Scheinwelt, mit deren Lügen Anna aufwuchs. Dass sie die monströse Kraft, die in ihrem Innern schlummert, gerade in jenem Moment entdeckt, als ein Jugendlicher sie am Rande einer Party zu vergewaltigen versucht und damit den Beginn ihres persönlichen Ausbruchs markiert, ist da nur konsequent, wenn auch narrativ überdeutlich aufgebaut. Die stellenweise fehlende Komplexität wird jedoch über weite Strecken des Films von seiner einfühlsamen und klug eingesetzten Inszenierung aufgefangen, die in dem Schrecken, der in der Transformation Annas liegt, immer mehr auch eine ganz eigene Schönheit gerade darin entdeckt, dass sie sich nicht abfindet, sich nicht mehr fügt.

Letztlich fehlt Wildling zwar einiges von der Strenge und Energie, die ähnliche Filme wie Raw oder Der Nachtmahr zu beeindruckenden Meisterwerken machen, und doch zeichnet auch er ein Bild des Horrors, der dem Aufwachsen innewohnt. Es ist der Horror, eine junge Frau zu sein, die – gar schröcklich! – weder ihren Willen fügen noch ihr Äußeres anpassen will. Hinter aller Finsternis und Brutalität entdeckt Wildling dabei, nicht zuletzt durch sein überaus gelungenes Monster-Design, eine eigene Schönheit: Es ist die Schönheit eines selbstbestimmen Lebens, eines Lebens in Freiheit.

Wildling (2018)

Ihr ganzes bisheriges Leben hat die heranwachsende Anna in einem einzigen Raum verbracht — zusammen mit einem Mann, den sie als Daddy kennt. Und der sorgt mit schrecklichen Geschichten dafür, dass sie sich vor den Außenwelt fürchtet. Was sie nicht ahnt: Das Monster ist sie selbst. Und das muss sie erfahren, als eine Polizistin sie im Alter von 16 Jahren aus der Gefangenschaft befreit. 

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