Wer wenn nicht wir

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Wie alles begann – Die RAF und ihr Entstehen

Man möchte so nicht aufgewachsen sein – nicht in dieser Zeit, mit diesem Vater und solch einer Mutter. Als Bernwards Kater Murr ein kleines Vögelchen, das aus dem Nest gefallen ist, verspeist, ahnt der Junge bereits, was nun folgen wird und versucht die Katze dem Zugriff des gestrengen Vaters zu entziehen. Ein vergebliches Unternehmen. Das Tier wird aufgespürt und mit einem Gewehrschuss erledigt. Immerhin gibt es dann für den schockierte Jungen eine Erklärung, die alle Zweifel beseitigen sollen: „Sie sind nicht wie wir, die Katzen, sie stammen aus dem Orient. Sie sind die Juden des Tierreichs.“
Die eigentliche Erzählung setzt nach diesem Epilog erst Jahre später ein: Aus dem kleinen Jungen ist mittlerweile ein junger Mann (August Diehl) geworden, der sein Studium der Literatur in Tübingen beginnt und unter anderem bei Walter Jens in den Vorlesungen sitzt. Trotz seiner strengen und kalten Erziehung ist Bernward seinen Eltern immer noch verbunden, eines seiner Hauptinteressen gilt der Rehabilitierung seines Vaters, während des Dritten Reiches ein „Großschriftsteller von Führers Gnaden“, der nun in den frühen Jahren der Bundesrepublik kaum mehr Anerkennung findet. Unterstützung bei seinem Vorhaben der Neuedition der väterlichen Romane findet Vesper junior bei der Studentin Gudrun Ensslin (Lena Lauzemis). Die beiden werden schließlich über der gemeinsamen Arbeit zu einem Liebespaar. Und genau darin liegt auch das Problem: Bernward ist notorisch untreu und verletzt die eher scheue Gudrun damit permanent – es ist ein Stachel im Fleisch, der später zu einer eitrigen Wunde werden wird. Im Zusammenwirken mit einer unruhigen Zeit, in der der Vietnamkrieg und die Bürgerrechtsbewegung in den USA zu prägenden Erlebnissen werden, entfalten die privaten Verletzungen Vespers und Ensslins zunehmend destruktive Kräfte. Als durch Andreas Baaders (Alexander Fehling) Auftauchen aus der Zweier- einer Dreierkonstellation wird, ist damit eine Bewegung in Gang gesetzt, die zunehmend außer Kontrolle gerät. Vesper gerät immer mehr in die Isolation, nimmt Drogen und sorgt mehr schlecht als recht für den gemeinsamen Sohn Felix, den er mit Gudrun Ensslin hat. Die Mutter des Kindes entscheidet sich schließlich schweren Herzens, aber wie besessen von der eigenen Mission, dazu, alles Vertraute und Sichere hinter sich zu lassen und gemeinsam mit Andreas Baader in den Untergrund, in den bewaffneten Widerstand zu gehen. Dies ist die Keimzelle, aus der die RAF entstand

Vesper, Ensslin, Baader – Urszenen des deutschen Terrorismus lautet der Titel des Buches von Gerd Koenen, auf dem Andres Veiels Film basiert, der Dokudrama und Historienfilm zugleich ist. Und genau das ist auch die Reihenfolge, mit der sich der Regisseur seine Figuren vornimmt und so Schritt für Schritt die Konstellation erweitert. Für ein Drama ist dies sicherlich eine gewagte Perspektive, weil der Film so mit einer Hauptperson beginnt und mit dreien endet – als Zeitdokument hingegen und Analyse der Vorgeschichte des deutschen Terrorismus ist dies genau richtig. Allein hierdurch ist schon zu spüren, wie sehr sich in Wer wenn nicht wir dokumentarische Elemente und Fiktionales die Hand reichen und sich gegenseitig ergänzen.

Mit seinem kühl analysierenden Blick und den dokumentarischen Einschüben, die die Hintergründe und Ereignisse der Zeit verdeutlichen, bildet Wer wenn nicht wir trotz des überlappenden Themas einen denkbar großen Kontrast zu Uli Edels Der Baader-Meinhof-Komplex. Statt wilder Action-Szenen zeichnet Veiel Zeitströmungen nach, entwirft psychologische Profile und fügt so dem Bild, das wir heute von der RAF haben, einige interessante und bemerkenswerte Facetten hinzu. Gemein ist beiden Filmen neben dem Thema und einem Teil des Personals die streng chronologische Erzählweise, die in beiden Fällen fast ein wenig atemlos Ereignis an Ereignis reiht – wobei im Falle von Veiels Film der Blick auf das Geschehen wesentlich ruhiger ist, das Erzähltempo gemäßigter als in Edels Nummernrevue.

Nach seinem überaus gelungenen Dokumentarfilm Black Box BRD (2001) ist Wer wenn nicht wir bereits die zweite Auseinandersetzung Veiels mit dem Thema. Und es ist nicht allein das Interesse an den zeithistorischen Zusammenhängen, die den ausgewiesenen Dokumentarfilmer zu diesem Experiment veranlasst hat, sondern auch, wie er in der Pressekonferenz betonte, die Beobachtung, dass heute ebenfalls eine große Verunsicherung in der Bevölkerung über den Zustand der Welt und der Gesellschaft zu spüren sei. Wird derzeit der Weg bereitet für eine neue Protestbewegung? Diese Frage werden wir wohl erst in einigen Jahren oder Jahrzehnten beantworten können.

Wer wenn nicht wir

Man möchte so nicht aufgewachsen sein – nicht in dieser Zeit, mit diesem Vater und solch einer Mutter. Als Bernwards Kater Murr ein kleines Vögelchen, das aus dem Nest gefallen ist, verspeist, ahnt der Junge bereits, was nun folgen wird und versucht die Katze dem Zugriff des gestrengen Vaters zu entziehen. Ein vergebliches Unternehmen. Das Tier wird aufgespürt und mit einem Gewehrschuss erledigt.
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