Welt am Draht

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter

Lässt sich der deutsche Filmemacher Rainer Werner Fassbinder (1945-1982) auch in vielerlei Hinsicht als Visionär bezeichnen, so kommt diese Komponente seines Schaffens bei Welt am Draht aus dem Jahre 1973 noch einmal in ganz besonderer Weise zum Tragen. Dieser komplexe Film über faszinierende Facetten der so bezeichneten Realität, der bei der diesjährigen Berlinale in einer unter der künstlerischen Leitung von Michael Ballhaus restaurierten Fassung zu sehen war, beschwört im Ausloten von Schein und Wirklichkeit die Untiefen und Abgründe grundlegender Prämissen und Dimensionen menschlichen Bewusstseins. Basierend auf dem Roman Simulacron-3 des US-amerikanischen Schriftstellers Daniel F. Galouye von 1964 entwirft Fassbinder in diesem Zweiteiler ein gespenstisches Szenario um Virtualität und Simulation, das den Zuschauer in einen Strudel von Trugbildern entführt, die die gängigen Grundannahmen über das Sein in der Welt kräftig perturbieren.
Nachdem Professor Vollmer (Adrian Hoven) während der Leitung des Projekts Simulacron 1 am Institut für Kybernetik und Zukunftsforschung unter rätselhaften Umständen unvermittelt verstorben ist, wird der Wissenschaftler Dr. Stiller (Klaus Löwitsch) zu seinem Nachfolger bestimmt. Doch die intensive Beschäftigung mit dem innovativen, überdimensionierten Computer, der einen Minikosmos von Identitäten erschafft und komplexe gesellschaftliche Prozesse der Zukunft präzise konstruieren kann, stürzt Dr. Stiller in eine erschütternde Bewusstseinskrise, die auch seinen Kollegen nicht verborgen bleibt. Er beginnt, sich auch emotional für diese virtuelle Welt zu engagieren, die doch nur eine (vermeintliche) Simultation darstellt. Die kuriosen Ereignisse in seiner Wahrnehmung häufen sich, und vor allem die Identitätseinheit „Einstein“ (Gottfried John) stiftet mit ihrem Drang über die Grenzen der eigenen Virtualität hinaus erhebliche Verwirrung, die bald das gesamte Leben des Wissenschaftlers beherrscht …

Seinerzeit vom WDR produziert birgt dieser ungeheuer dichte Film eine kuriose Schauspielertruppe, die in den Nebenrollen mit markanten Gestalten wie dem Filmemacher Ulli Lommel, dem Schlagersänger Bruce Low und dem einstigen „Sponti“ Rainer Langhans besetzt ist. Das Spiel mit dem Spiel um Realitäten ist durch starke Bilder von einer Atmosphäre schwelender Eindringlichkeit bestimmt, die durch permanent präsente Elemente wie Videokameras, Spiegel und Glas verdichtet wird. Welt am Draht jongliert gekonnt mit den vielschichtigen Ebenen von Wahrnehmung, Bewusstsein sowie Konstruktion und demaskiert eine objektive Realität als Ausprägung einer Deutungshoheit – eine Erkenntnis, die in diesem Universum zunächst als Wahn deklariert wird, der letztlich allerdings lediglich als weitere Wirklichkeitsvariante bewertet wird. Insbesondere für die damalige Zeit, aber auch heute noch stellen diese philosophischen Betrachtungen ein immens spannendes, nachhaltig anregendes Territorium dar.

Im Begleitmaterial der Doppel-DVD, die als Arthaus Premium Edition erscheint, befindet sich ein ganzer Fundus an ansprechendem Begleitmaterial, das auch die Dokumentation Fassbinders „Welt am Draht“ – Blick voraus ins Heute von Juliane Lorenz, den Interviewfilm Rainer Werner Fassbinder, 1977 von Florian Hopf und Maximiliane Mainka sowie die Kurzfilme Das kleine Chaos und Der Stadtstreicher von Rainer Werner Fassbinder umfasst. Der ungefällige, exzentrische Regisseur bemerkt im Interview, dass er das dunkle, dumpfe Gefühl loswerden wolle, ständig observiert zu sein, ständig unter Beobachtung zu stehen. Diese persönliche Paranoia findet in Welt am Draht einen besonders intensiven Ausdruck, wo das Motiv der permanenten Oberservation einen ganz zentralen Aspekt darstellt, wobei die Macht, die letztlich die Drähte zieht, in den Prozessen der Beobachtungsmaschinerie verborgen bleibt – ein wuchtiger, packender wie avantgardistischer Film, den der modernen Mainstream längst nicht eingeholt hat.

Welt am Draht

Lässt sich der deutsche Filmemacher Rainer Werner Fassbinder (1945-1982) auch in vielerlei Hinsicht als Visionär bezeichnen, so kommt diese Komponente seines Schaffens bei „Welt am Draht“ aus dem Jahre 1973 noch einmal in ganz besonderer Weise zum Tragen.
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