Vorsicht Sehnsucht

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Eine verrückte Liebe

Das Leben ist ein Roman. So heißt ein Film des französischen Altmeisters Alain Resnais aus dem Jahr 1983. Der Titel ist Programm: Noch nie hat sich der Mitbegründer der Nouvelle Vague mit der schnöden Realität abgefunden. In seinen Filmen wird sie stets überhöht, poetisch verdichtet. So auch in seinem neuen Film. Der ist zwar etwas rätselhafter als Herzen (2006) oder Das Leben ist ein Chanson. Aber er verfolgt dasselbe Anliegen, das Resnais schon seit Jahrzehnten umtreibt: Durch experimentelle Erzählweisen dem Leben neue Schönheiten abzutrotzen.
Alles beginnt mit einem ebenso unschönen wie realistischen Vorfall: Marguerite (Sabine Azéma) wird die Handtasche entrissen. Die weggeworfene Brieftasche landet neben dem Wagen von Georges (André Dussollier). Der kleine Vorfall hat große Wirkungen. Obwohl sich die beiden gar nicht kennen und es noch eine Weile dauern wird, bis sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, ist der pensionierte Georges in die Frau Anfang 50 verliebt. Und weil er hartnäckig genug ist, werden seine Gefühle irgendwann erwidert.

Die Frage ist nur: Findet das Ringen um diese Liebe im realen Leben oder mehr in Gedanken statt? Das lässt sich schwer entscheiden, weil es immer wieder Hinweise gibt, dass Georges manchmal Dummheiten macht und im Kopf nicht immer ganz richtig ist. Les herbes folles — verrückte Kräuter — lautet der Filmtitel im Original. Er verweist auf die irrationalen, unvernünftigen Impulse, von denen die beiden Hauptfiguren gesteuert werden. Wie Kräuter oder Gräser, die zwischen Steinen wachsen, also in einer für sie lebensfeindlichen Umwelt, siedeln sich Marguerite und Georges mit ihrer Sehnsucht in einer Realität an, die sie zu Verrückten stempelt.

Schon zwischen die ersten Einstellungen schneidet Resnais Bilder, die für Irritationen sorgen. Und dann steigert er die Verfremdung, ganz langsam, ganz allmählich, aber unwiderruflich. Marguerite und Georges gleiten ab in die Welt ihrer Sehnsucht, die eigenen Gesetzen folgt. Hier regieren die Wünsche und das Prinzip, aus einem vernünftig eingerichteten Leben mit Job (Marguerite) und Familie (Georges) noch einmal auszubrechen, obwohl es dafür nach den üblichen Maßstäben längst zu spät ist.

Als Georges die Brieftasche findet, entdeckt er darin zwei Bilder von Marguerite. Das Passbild des Personalausweises verrät eine verdeckte Traurigkeit. Aber dann ist da noch der Pilotenausweis. Ein Bild scheinbar von einer anderen Frau, einer lachenden, vitalen, selbstbewussten. Das Foto von einer Frau, die fliegen kann, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Wahrscheinlich ist es das, was George so anspricht. Auch er möchte noch einmal fliegen können, egal ob man das in seinem Alter noch tut.

Wie in anderen Filmen von Resnais dient auch hier ein Roman als Vorlage: L’ Incident des französischen Erfolgsautors Christian Gailly. Und wie in früheren Werken antwortet Resnais mit der Filmsprache auf die Komplexität des Romans. So spiegeln sich Georges’ innere Monologe in einer Bilderwelt, die die Realität bricht und eine zweite, subjektive Ebene darüber legt. Auch mit seinen bald 88 Jahren ist Resnais also noch zu Experimenten aufgelegt. Diesmal hat er eine Liebesgeschichte erzählt, die so noch nie im Kino zu sehen war. Und das ist bei der Allgegenwart dieses Themas gewiss kein geringes Verdienst.

Vorsicht Sehnsucht

„Das Leben ist ein Roman“. So heißt ein Film des französischen Altmeisters Alain Resnais aus dem Jahr 1983. Der Titel ist Programm: Noch nie hat sich der Mitbegründer der Nouvelle Vague mit der schnöden Realität abgefunden. In seinen Filmen wird sie stets überhöht, poetisch verdichtet. So auch in seinem neuen Film.
  • Trailer
  • Bilder

Meinungen