Von Caligari zu Hitler

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Eine deutsche Filmgeschichte

Caligari und Mabuse, Nosferatu und Joh Fredersen: Herrscher und Verführer, Tyrannen und Manipulatoren beherrschen das Kino der Weimarer Republik, sie lassen Schlafwandler morden und hypnotisieren die Masse, bringen mit einem Geisterschiff die Pest und unterdrücken die Arbeiter von Metropolis. Siegfried Kracauer, zeitgenössischer Feuilletonist und Gesellschaftskritiker der Weimarer Zeit, formulierte 1947 die These, dass die Filme der 1920er Jahre schon die kommenden Hitler-Schrecken vorwegnahmen. Dass die untergründigen kollektivpsychologischen Strömungen, die zur „Machtergreifung“ führten, sich schon zuvor mehr oder weniger unbewusst in die Filmbilder hineingeschrieben haben. Dass man aus den Filmen also auf die gesamtgesellschaftliche Struktur schließen könne.
Rüdiger Suchsland, der unter anderem für die FAZ und für den Filmdienst schrieb bzw. schreibt, ist an Siegfried Kracauer geschult. Als Filmkritiker sieht er sich zwingend auch als Gesellschaftskritiker. Und als Filmhistoriker interessiert ihn die Verbindung zwischen der Befindlichkeit der Menschen, der Masse, und deren Manifestationen auf der Leinwand zwischen Expressionismus und Neuer Sachlichkeit. Suchslands Film Von Caligari zu Hitler – Das deutsche Kino im Zeitalter der Massen blickt auf die Weimarer Republik, indem es auf die Filme der Weimarer Republik blickt – und er blickt damit auch weiter auf das Heute, schon indem er auf Bezüge zu Nouvelle Vague, zu Antonioni, zu Indiana Jones in den Filmen dieser Zeit hinweist.

Dunkle Schatten, verzerrte Perspektiven; mythische Landschaften, gequälte Seelen; herrische Väter, lockende Frauen: Lotte Eisner beschrieb das Weimarer Kino als „dämonische Leinwand“ – doch da sind auch Lust am Experiment, Aufbruch in eine neue Zeit, das Ausprobieren einer neuen Kunstform, Lebensfreude und Hoffnung: Nach der zerschmetternden Niederlage des Weltkrieges geht es in die Goldenen Zwanziger, aus einer traumatisierten, innerlich zerrissenen Gesellschaft formt sich eine erste deutsche Demokratie. Not und Elend aus einer bürgerkriegsähnlichen Revolution, aus Hyperinflation und Börsenkrach geht einher mit einem enormen Aufschwung, dem die künstlerische Avantgarde ebenso wie die Massenkünstler des Films voranstürmen. Wie in einem Treibhaus erfindet das deutsche Kino dieser Jahre das filmische Erzählen neu, probiert sich in allen Genres aus und kommt in ihnen alsbald zu weltweit anerkannter Meisterschaft. Es war die beste Zeit für das deutsche Kino überhaupt. Und doch: Es ist ein Kino, das man heute eher vom Hörensagen als von eigener Anschauung her kennt, es ist ein Kino, das jeder unbedingt wiederentdecken sollte – es ist das Kino, das Suchsland mit Lust und Leidenschaft porträtiert, in das er hineintaucht, mit langem Atem, um Bekanntes neu zu beleuchten und Unbekanntes aufzustöbern.

Oh, die Lust am Kino: Sie treibt Suchsland an, und sie trieb damals die Regisseure an, sichtbar und spürbar. Lubitsch, Lang und Murnau, die Großen Drei, schaffen Klassiker– aber nicht nur sie, nein: Allenthalben entsteht ein neues Meisterwerk, überall finden sich großartige Geschichten, Bilder, Charaktere. Die Kraft des Erzählens geht einher mit handwerklicher Virtuosität, etwa der Filmarchitekten mit ihren ausgefeilten, eindrucksvollen Production Designs, die die Seelenlandschaft der Filmprotagonisten ebenso widerspiegeln wie die der Zuschauer. Immer wieder kommt Suchsland ins Schwärmen über die Darstellerinnen dieses Kinos, immer wieder findet er prägnante Bilder, in die sich das Wesen der Filme hochkonzentriert hineindestilliert hat. Immer wieder kommt er von den bekannten Filmtiteln auf die vergessenen Regisseure zu sprechen, immer wieder findet er genau die passende Formulierung, um einen Film, eine Person, ein Phänomen dieser Zeit prägnant zu charakterisieren.

Diese Auseinandersetzung mit dem Weimarer Kino (und dadurch mit der Weimarer Zeit) ist geprägt von Lebendigkeit und Leichtigkeit. Suchsland lässt es an Genauigkeit nicht missen, vor allem aber nicht an Begeisterung an seinem Anschauungsobjekt. Eine Begeisterung, die er mit seinen Interviewpartnern – unter anderem Fatih Akim und Volker Schlöndorff als Praktiker, Thomas Elsaesser und Elisabeth Bronfen als Theoretiker – teilt. Diese bringen neue, eigene Aspekte ein – und Suchsland gelingt es, aus den disparaten Filmen einer dissoziierten Epoche eine geschlossene Dokumentarerzählung zu formen, die in die Tiefe geht und doch leicht verständlich ist, die kein Wissen voraussetzt und doch auch den Cineasten nicht mit bloßen redundanten Banalitäten abspeist.

Der Schatten, den Gustaf Gründgens behandschuhte Hand auf den Stadtplan in Langs M — Eine Stadt sucht einen Mörder wirft, die ungezwungene Lebensfreude am Wannsee für die Menschen am Sonntag, die Psychopathologie einer Revolution, die Robert Reinert 1919 in Nerven schildert und die Lustigkeit, die Lubitsch im selben Jahr in der Puppe aufbaut, die Hinwendung zum Proletariat bei den allgemein vergessenen Regisseuren Marie Harder und Werner Hochbaum und die märchenhafte Lust am Leben, an der Liebe und am Gesang der Drei von der Tankstelle: Von Caligari zu Hitler ist ein Flanieren durch eine brausende Ära der Filmgeschichte, und ebenso ist es ein klares Bild einer aufbrausenden Epoche der deutschen Historie. Was weiß das Kino, das wir nicht wissen – das ist die Leitfrage, die Suchsland umkreist, ohne sie zu beantworten, der er sich stellt und die er dem Zuschauer stellt. Und vermutlich weiß das Kino – dieses Kino der Zwanziger Jahre – alles. Und wir sollten definitiv alles über dieses Kino wissen.

Der Abspann, der eine Unzahl von prägenden Künstlern dieses Kinos auflistet, die allesamt emigriert sind, emigrieren mussten, zeigt noch einmal, welche Möglichkeiten, welche Hoffnungen die deutsche Kultur in der Folge verloren – und bis heute nicht wiedergefunden hat.

Von Caligari zu Hitler

Caligari und Mabuse, Nosferatu und Joh Fredersen: Herrscher und Verführer, Tyrannen und Manipulatoren beherrschen das Kino der Weimarer Republik, sie lassen Schlafwandler morden und hypnotisieren die Masse, bringen mit einem Geisterschiff die Pest und unterdrücken die Arbeiter von „Metropolis“. Siegfried Kracauer, zeitgenössischer Feuilletonist und Gesellschaftskritiker der Weimarer Zeit, formulierte 1947 die These, dass die Filme der 1920er Jahre schon die kommenden Hitler-Schrecken vorwegnahmen.
  • Trailer
  • Bilder

Meinungen