Von Angesicht zu Angesicht (1976)

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Unbehagen und Beklemmung à la Ingmar Bergman

„Liebe Mitarbeiter! Wir werden nun einen Film machen, in dem es in gewisser Weise um einen versuchten Selbstmord geht. Tatsächlich handelt er („wie üblich“ wollte ich gerade sagen) von Leben, Liebe und Tod. Der Grund ist, dass wirklich nichts wichtiger ist. Um sich damit zu beschäftigen. Um darüber nachzudenken. Um sich darüber zu sorgen. Um darüber glücklich zu sein. Und so weiter.“ Mit diesen Worten beginnt ein Brief des schwedischen Filmemachers Ingmar Bergman vom 7. Dezember 1974 an Cast und Crew seines Films Von Angesicht zu Angesicht, der im Begleitmaterial der DVD auftaucht. Hier beschreibt der Regisseur auf sehr eindringliche Weise das Wesen dieses Projekts in künstlerischer und menschlicher Hinsicht und erwähnt die sehr persönliche Ebene seiner Ängste, die ihn damit verbindet. Und in der Tat handelt es sich hier um einen streckenweise beklemmend intensiven Film über die Konfrontation einer jungen Frau mit den toten Winkeln ihrer eigenen Lebensgeschichte.

Dass ein Besuch bei der Herkunftsfamilie unvermittelt starke emotionale Impressionen in Bezug auf die eigene Identität auszulösen vermag, erfährt auch die Heldin in Von Angesicht zu Angesicht: Die Psychiaterin Dr. Jenny Isaksson (Liv Ullmann), die mit einem Kollegen derselben Zunft (Sven Lindberg) verheiratet ist, besucht während dessen beruflichen Aufenthalts in den USA für zwei Monate ihre Großeltern (Aino Taube und Gunnar Björnstrand), während ihre Tochter die Ferienzeit auf einem Reiterhof und danach bei einer Freundin verbringt. Während ihr Großvater bereits in eine wachsende Altersapathie dämmert und sie kaum erkennt, zeigt sich ihre Großmutter sehr fürsorglich und hat ihr ein Zimmer mit alten Möbeln aus Kindertagen eingerichtet. Bereits in der ersten Nacht dieser Übergangszeit, nach der sie mit Ehemann und Tochter ein neues Haus beziehen will, wird Jenny von beängstigenden Gespenstern der Vergangenheit heimgesucht, was im Verlauf der Geschichte in ein Szenario von Alpträumen und Wahnvorstellungen abgleitet.

Derweil geht Jenny tagsüber ihrer Arbeit im Krankenhaus nach, wo sie gerade für eine Weile den Oberarzt vertritt, während sie in ihrer Freizeit zunehmend Zeit mit dem Arzt Dr. Tomas Jacobi (Erland Josephson) verbringt, den sie auf einer schrägen kleinen Party kennen lernt und bei dem sie offenbar gegen ihre eintretenden Verwirrungen Schutz sucht. Als ihre gerade heftig kriselnde Patientin Maria (Kari Sylwan) seltsamerweise von zwei Männern in Jennys leer stehende Wohnung gebracht wird, ereignet sich dort eine versuchte Vergewaltigung der herbeigerufenen Psychiaterin durch einen jungen Mann, die sie ganz eigenartig ambivalent wahrnimmt, ohne sie jedoch zu melden. Ihr Zustand rutscht immer stärker in eine geradezu infantile Hilflosigkeit mit hysterischen Tendenzen, als sie während der Abwesenheit ihrer Großeltern für ein paar Tage allein im Haus ihrer Kindheit total verängstigt allzu viele Schlaftabletten schluckt …

Von Angesicht zu Angesicht wurde vor allem auf Grund der außergewöhnlich berührenden Darstellung Liv Ullmanns als Jenny neben anderen Auszeichnungen für einen Oscar, einen BAFTA Award sowie einen Golden Globe nominiert, wobei letzterer Preis dann auch verliehen wurde. Und dieses intensive, mitunter quälend versunkene Spiel löst in der Tat einiges an Unbehagen aus und vermittelt überzeugend all die Beklemmungen und Nöte, die bei dieser Frau ans Licht drängen. Sicherlich gibt es mitunter Sequenzen innerhalb des Krisenprozesses, die allzu symbolisch überfrachtet psychologisiert werden, dabei aber in starken, nachdrücklichen Bildern erscheinen, die die Rauschhaftigkeit dieser Abgründe visualisieren.

Ingmar Bergman lässt jedoch selbst auch deutliche Kritik am System vor allem der klinischen „Seelenkunde“ heraushängen, indem er beispielsweise einen zynischen Kollegen von Jenny über den Bankrott der Psychoanalyse sinnieren lässt, denn das Angestrebte, die Heilung der Patienten, würde letztlich scheitern – eine provokante Position, die für die 1970er Jahre, in denen der Film entstand, schon recht radikal anmutet. Die Figur der aus der Bahn geworfenen Frau kommt innerhalb ihrer späteren Reflexionen zu Aussagen über das Leben, die wie persönliche Konklusionen des Regisseurs und Drehbuchautors Ingmar Bergman aus eigenen Krisen klingen, die er nach eigener Aussage in jenem eingangs erwähnten Brief an seine Mitarbeiter vor Beginn der Dreharbeiten zu Von Angesicht zu Angesicht im Film thematisiert hat. Der Mensch ist so leicht zu verletzen, lautet etwa ein Befund, und das Leben konstituiert sich aus Erwartungen, Rollen und schließlich dem Spiel damit, ein anderer. Und am Ende steht die Betrachtung, dass letztlich die Liebe alles mit einschließt, auch den Tod, was auch zusammenfassend die gewaltige Schwere dieses Films zum Ausdruck bringt, dessen verstörende Vielschichtigkeit noch kräftig nachwirkt.
 

Von Angesicht zu Angesicht (1976)

„Liebe Mitarbeiter! Wir werden nun einen Film machen, in dem es in gewisser Weise um einen versuchten Selbstmord geht. Tatsächlich handelt er („wie üblich“ wollte ich gerade sagen) von Leben, Liebe und Tod. Der Grund ist, dass wirklich nichts wichtiger ist.

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