Vodka Factory

Eine Filmkritik von Kirsten Kieninger

In der Rolle ihres Lebens

Vodka Factory war der Internationalen Jury für Dokumentarfilm bei der 53. DOK Leipzig die Goldene Taube wert. In der Jury-Begründung findet sich folgendes Statement, das aufhorchen lässt: „Durch die Verwendung fiktiver Mittel, die gleichzeitig dokumentarisch sind, behandelt der Regisseur das Schicksal vieler Charaktere, die den Film nicht nur tragen, sondern allmählich mehr und mehr von einer kleinen Fabrik in einer russischen Stadt preisgeben…“ Tatsächlich ist die von Arte mitfinanzierte schwedische Produktion eher eine Art Doku-Soap als ein Dokumentarfilm.
Regisseur Jerzy Sladkowski hat seine Protagonisten im russischen Provinzstädtchen Schiguljowsk an der Wolga gefunden. Über 900 Kilometer entfernt von Moskau, scheint das Leben dort nicht viele Perspektiven zu bieten. Wenn man den Namen des Städtchens googelt, findet man wenige Informationen, wohl aber einige Links zu Partnervermittlungen, wo Heirats- und Ausreisewillige Frauen aus Schiguljowsk ihr Glück suchen. Auch die 22jährige Valya, die in Vodka Factory die Hauptprotagonisten ist (oder besser gesagt: die Hauptrolle spielt), träumt von einem besseren Leben. Sie ist alleinerziehende Mutter eines kleinen Jungen, arbeitet in der örtlichen Wodka-Fabrik und wäre doch viel lieber Schauspielerin im fernen Moskau. Sie erträgt den Spott ihrer Kolleginnen am Fließband, die ihr absolute Talentlosigkeit konstatieren, sie irritiert ihre Schauspiellehrerin mit Textpassagen aus Gorkis Mutter, die sie ausgewählt hat, weil sie so schön „einfach“ wären, und immer öfter bürdet sie ihrer 50jährigen Mutter Tatiana, die als Bus-Schaffnerin arbeitet, den Sohn auf, damit sie ihrem Glück nachjagen oder zumindest in Ruhe davon träumen kann, bis sie schließlich unvermittelt den Aufbruch wagt und ihr altes Leben samt Sohn hinter sich zurück lässt. Aber tut sie das wirklich? Oder spielt sie nur die Rolle ihres Lebens, wie es in der Konsequenz aussehen könnte, „dokumentiert“ in diesem Film?

Und damit sind wir bei der Gretchenfrage des dokumentarischen Filmschaffens: Wie hälst du’s mit der Realität? Dokumentarfilme dramatisieren die vorgefundene Wirklichkeit spätestens im Schneideraum. In der Montage wird die Realität mindestens dramaturgisch verdichtet, manchmal auch ein wenig zurecht gebogen. Sladkowski aber setzt mit seiner Dramatisierung schon viel früher an. Vorgefunden hat er nur seine Protagonisten und deren Lebenswirklichkeit, den konkreten Ereignissen dagegen hat er regelrecht auf die Sprünge geholfen. Beim Publikumsgespräch in Leipzig erzählte der Regisseur ganz selbstverständlich, dass er Szenen für die Kamera wiederholen ließ und der Produzent sprach von einer „guten Zusammenarbeit“ mit den Protagonisten.

Aufmerksame Leser des Festivalkatalogs waren schon vorgewarnt, heißt es dort doch: „Im teils offensichtlichen Spiel der Personen für eine Kamera, die der Handlung immer einen Schritt voraus ist, agiert der Film hart an der Grenze zwischen Dokumentarischem und Fiktion.“ So liefert die Kamera in vielen Situationen eine regelrechte Spielfilm-Auflösung der Situationen: Sie zeigt Valyas wartende Freundinnen in der Wohnung und ist dann „gleichzeitig“ bei der ankommenden Valya vor der Tür. Die Kamera ist schon bei Tatiana im Bus, „zufällig“ genau in den essentiellen Momenten, wenn Valya mit Sohn zusteigt, um ihn bei ihr abzuladen, oder wenn plötzlich die alte Jugendliebe an der nächsten Station steht. Die Inszenierung der Ereignisse ist spürbar und auch so manche lautstarke Auseinandersetzung Valyas mit ihrer Mutter oder ihrer Freundin fühlt sich für den Film nachgespielt an. Während dieser Szenen, in denen die Kamera meist dicht an den Gesichtern der Frauen klebt, kann einen schon das merkwürdige Gefühl beschleichen, dass — würden die Frauen nicht auf russisch zanken, sondern sich auf deutsch ankeifen — die Grenze zum Genre der nachmittäglichen TV-Real-Life-Doku-Dramen mutwillig überschritten wurde. Mit dem Effekt, dass die Wirkung der auf der Leinwand so geballt zur Schau getragenen Emotionen über weite Strecken seltsam ins Leere läuft. Auch der romantische Moment, der Valyas Mutter mit ihrer „plötzlich“ wieder aufgetauchten Jugendliebe im Bus zeigt, bekommt einen schalen Beigeschmack, weil man sich unweigerlich fragt, wie viel davon extra für die Kamera hergestellt wurde. Was ist schließlich mit den dicken Tränen, die Valya vergießt, als sie den Sohn zurücklässt – inwieweit treffen hier die Kunst der Inszenierung und Valyas Schauspielambitionen dramaturgisch geschickt zusammen?

Wenn man den Film von seinem falschen Label „Dokumentarfilm“ befreit betrachtet, kann man sagen, dass man eine qualitativ hochwertige Doku-Soap gesehen hat, bei der hinter all der Inszenierung ein interessantes Stück Lebenswirklichkeit durchscheint und die man sich auf Arte durchaus gerne einmal anschauen würde. Wobei allerdings die Frage bleibt, warum eine solche Produktion ausgerechnet mit dem internationalen Hauptpreis eines renommierten Festivals für Dokumentarfilm ausgezeichnet wird.

Vodka Factory

„Vodka Factory“ war der Internationalen Jury für Dokumentarfilm bei der 53. DOK Leipzig die Goldene Taube wert. In der Jury-Begründung findet sich folgendes Statement, das aufhorchen lässt: „Durch die Verwendung fiktiver Mittel, die gleichzeitig dokumentarisch sind, behandelt der Regisseur das Schicksal vieler Charaktere, die den Film nicht nur tragen, sondern allmählich mehr und mehr von einer kleinen Fabrik in einer russischen Stadt preisgeben…“
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