Viridiana

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Luis Buñuels leise Abrechnung mit der katholischen Moral

Dass sich in diesem Jahr der Blick verstärkt auf das Jahr 1961 richtet, hat seinen Grund in den diversen Jubiläen und Jahrestagen, die sich mit ihm verknüpfen. Von diesen ist natürlich der Bau der Berliner Mauer der Wichtigste. Doch auch cineastisch war vor 50 Jahren einiges geboten – so zum Beispiel der skandalumwitterte Gewinn der Goldenen Palme durch Luis Buñuels Film Viridiana, der prompt nach seiner Fertigstellung in Spanien aus dem Verkehr gezogen wurde. Und das, obwohl der Filmemacher durch eine persönliche Einladung General Francos aus dem mexikanischen Exil auf die iberische Halbinsel gelockt worden war, um dort in völliger künstlerischer Freiheit seinen neuen Film zu drehen. Wohl musste das Werk die gestrengen Augen der Zensur passieren, doch offensichtlich hatte sich keiner der zuständigen ästhetischen Scharfrichter ausmalen können, welche gewaltigen Provokationen in dem Skript schlummerten – speziell im stockkatholischen und unter der Ägide Francos erzreaktionären Spanien.
Die junge Novizin Viridiana (Silvia Pinal) steht kurz davor, ihr Gelübde als Nonne abzulegen. Doch bevor sie endgültig in den Stand einer Braut Christi tritt, wird sie von ihrem vermögenden Onkel Don Jaime (Fernando Rey), ihrem einzigen verbliebenen Verwandten, auf dessen Landgut eingeladen. Widerwillig und nur auf Geheiß ihrer Oberin macht sich die junge Frau auf den Weg zu ihrem Verwandten, den sie kaum kennt. Dort findet sie freundliche Aufnahme, doch hinter der Fassade verwandtschaftlicher Fürsorge schlummern Abgründe. Und die liegen in Don Jaimes Vergangenheit: Vor vielen Jahren verstarb seine Braut in der Hochzeitsnacht in seinen Armen, sie trug noch das Brautkleid. Weil Viridiana seiner verstorbenen Frau verblüffend ähnlich sieht, bringt Don Jaime seine Nichte am letzten Abend vor der Abreise dazu, das Brautkleid anzuziehen, das er sich zuvor selbst übergestreift hatte (vermutlich nicht zum ersten Mal). Als Don Jaime seiner Nicht seine Liebe gesteht und sie inständig bittet, bei ihm zu bleiben, lehnt diese das Ansinnen energisch ab. Doch mit Hilfe seiner Bediensteten Ramona (Margarita Lozano) gelingt es Jaime, die junge Frau zu betäuben. Am nächsten Morgen behauptet er Viridiana gegenüber, er habe sie im Schlaf vergewaltigt, um sie doch noch von ihrer Abreise und dem Gelübde abzubringen – die junge Frau aber will sich durch nichts von ihrem Entschluss abbringen lassen. Dann, am Bahnhof, kurz bevor der Zug losfährt, erhält Viridiana eine schreckliche Nachricht: Ihr Onkel, so erfährt sie, habe sich kurz nach ihrem Verlassen des Gutes an einem Obstbaum erhängt. Die Schuldgefühle, die sie nun plagen, führen schließlich dazu, dass sie von ihrem Entschluss, Nonne zu werden, abrückt.

Gemeinsam mit Don Jaimes unehelichem Sohn, dem notorischen Schürzenjäger Jorge (Francisco Rabal) erbt Viridiana das Gut. Während er versucht, das heruntergekommene Anwesen zu sanieren (und sich dabei an die Mitinhaberin heranzumachen), hat sich Viridiana der Fürsorge für die Armen und Bedürftigen verschrieben und versucht auch jetzt noch ein gottgefälliges Leben zu führen. Doch die Bettler, denen sie Asyl gewährt, erweisen sich als Lügner und Betrüger, die nach einer ausschweifenden Orgie sogar versuchen, ihre Wohltäterin zu vergewaltigen, was nur knapp verhindert werden kann. Seit dieser Nacht ist Viridiana nicht mehr die, die sie zuvor einmal war. Am Ende werden dann buchstäblich die Karten neu gemischt und vielleicht, so die milde Utopie, die man durchaus auch auf die Situation Spaniens in der damaligen Zeit beziehen könnte, ist das ja der Beginn eines neuen, freieren Lebens…

Der Skandal, der dem Film vor allem in Spanien folgte, legt nahe, dass Buñuel bei seiner Abrechnung mit dem Katholizismus ähnlich brachial vorgegangen ist wie zu Beginn seiner Karriere mit seinen bilderstürmerischen Frühwerken Un chien andalou (1929) und L’âge d’or (1930). Doch in Wirklichkeit arbeitet der Regisseur in diesem Film viel feiner und bisweilen auch enigmatischer und verschlüsselter, ohne dabei viel von seiner Wirkung zu verlieren.

Mit eindringlicher Symbolik und verschmitztem Humor der etwas dunkleren Art entlarvt Viridiana die Zusammenhänge von Fetischismus, unterdrückter Sexualität und Schuldkomplexen und demontiert im zweiten Teil seines furiosen Films die grundlegende katholische Lehre, indem er ausgerechnet die arglose und unschuldige Viridiana, die stets nur aus den besten Absichten heraus handelt, auf ganzer Linie scheitern lässt.

Für besondere Empörung sorgte vor allem jene Szene, als die Bettler bei dem wüsten Gelage wie zufällig eine exakte Kopie des Abendmahls von Leonardo da Vinci formen oder eine Stelle, bei der Viridiana sich weigert, das Euter einer Kuh anzupacken, weil die Zitzen nicht nur die keusche junge Frau an einen Penis erinnern. Das Schöne an diesem Film: Je genauer man hinschaut, umso mehr Hinweise und verrätselte Attacken auf die katholische Kirche entdeckt man – wobei die Palette von einem Kruzifix mit ausklappbarem Taschenmesser bis zur schlussendlichen, wunderbar beiläufigen Verbrennung des Dornenkranzes reicht, den Viridiana stets als Erinnerung an das Leiden Christi mit sich führt.

Die DVD-Erstveröffentlichung des Labels Pierrot Le Fou enthält erstmals einige Szenen, die in der bisherigen deutschen Fassung nicht enthalten waren und die deshalb in der Originalsprache spanisch mit deutschen Untertiteln wiedergegeben werden. Außerdem enthält die DVD noch die 45-minütige Dokumentation Filmemacher unserer Zeit — Luis Buñuel, bei der sowohl der Regisseur wie auch einige seiner Mitstreiter und Weggefährten zu Wort kommen. Für Buñuel-Fans, aber auch für filmhistorisch Interessierte ist Viridiana jedenfalls ein echtes Muss.

Viridiana

Dass sich in diesem Jahr der Blick verstärkt auf das Jahr 1961 richtet, hat seinen Grund in den diversen Jubiläen und Jahrestagen, die sich mit ihm verknüpfen. Von diesen ist natürlich der Bau der Berliner Mauer der Wichtigste. Doch auch cineastisch war vor 50 Jahren einiges geboten – so zum Beispiel der skandalumwitterte Gewinn der Goldenen Palme durch Luis Buñuels Film „Viridiana“, der prompt nach seiner Fertigstellung in Spanien aus dem Verkehr gezogen wurde.
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