Und erlöse uns nicht von dem Bösen

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Zwei teuflische Geschöpfe

14 Jahre alt sind die beiden Freundinnen Anne de Boissy (Jeanne Goupil) und Lore Fournier (Catherine Wagener), zwei ganz normale Mädchen in der Pubertät, die eine blond, die andere dunkelhaarig, beide aus gutem Hause stammend und keineswegs das, was man heute gerne vernachlässigt nennt. In der ländlichen Klosterschule irgendwo in der französischen Provinz, wo die beiden Mädchen sittenstreng und strikt katholisch erzogen werden, beginnt alles als kleiner Akt des Widerstandes gegen die Allgegenwart des rechten Glaubens. Nachts, heimlich unter der Bettdecke, lesen sie alles, was sie an verbotener Literatur in die Finger bekommen und ergötzen sich am Reiz der zunächst noch heimlichen Tabu-Überschreitung.
Dann zuhause, in den Ferien, während der sie sich häufig sehen, weil sie sich einfach nicht voneinander trennen können, will der Reiz des Bösen nicht mehr nur erlesen, sondern auch wahrhaftig erfahren werden. Und so beginnen Anne und Lore sadistische kleine Spielchen zu treiben, zunächst mit Katzen und den Singvögeln eines Knechts im heimischen Schloss von Anne, dann mit dem unschuldig-durchtriebenen Spiel mit den eigenen Reizen, die sie so lange gegen die Männer in ihrer Umgebung einsetzen, bis die Fassade des wohlanständigen Bürgertums fällt und die Erwachsenen wie die Tiere über die beiden herfallen, nur um sie dann zurückzuweisen.

Bei einem dieser „Spiele“ wissen sich Anne und Lore eines Mannes nicht anders zu erwehren, als ihn zu erschlagen. Die Erkundigungen der Polizei führen schließlich auf die Spur der Mädchen, die beschließen, dass sie sich durch nichts auf der Welt voneinander trennen lassen – was sie auch auf spektakuläre Weise umsetzen…

Wem die Geschichte von Und erlöse uns nicht von dem Bösen bekannt vorkommt: Richtig. Wie Peter Jacksons Heavenly Creatures aus dem Jahre 1994 basiert sie auf den gleichen realen Geschehnissen, die auch Joël Séria in seinem atmosphärisch dichten Regiedebüt aus dem Jahre 1971 zeigt. 1954 erregte die „teuflische Freundschaft“ der beiden neuseeländischen Teenager Pauline Parker und Juliet Hulme, die in der Ermordung von Paulines Mutter gipfelte, die Weltöffentlichkeit. Während Jackson aber – abgesehen von den fantastischen Anteilen – relativ nahe an der realen Geschichte dranbleibt, fungiert die Realität des Falles Parker / Hulme bei dem Franzosen allenfalls als Inspiration.

Ganz ohne satanisches Tamtam, aber mit viel Gespür für die Absurditäten der bürgerlichen Gesellschaft im ländlichen Frankreich der frühen 1970er Jahre erinnert Und erlöse uns nicht von dem Bösen formal und inhaltlich vor allem an Luis Buñuels Viridiana und weitere Werke des großen Surrealisten und an Claude Chabrols ätzende Auseinandersetzungen mit dem französischen Bürgertum. Man spürt den Geist von George Batailles philosphischem und schriftstellerischem Werk, erahnt Verwandtschaftsverhältnisse und Verbindungslinien zu den wütenden Filmen Catherine Breillats, zu den Rrrriot Girls, den Pussy-Riot Aktivistinnen, zu den oft gescholtenen (und noch öfter gründlich missverstandenen) Frauengestalten eines Lars von Trier, sieht die Bruchstücke europäischer Sexpolitation-Filme wie dem damaligen Kinohit Der Schulmädchenreport, der hier mit viel Sinn fürs Subversive gegen den Strich gebürstet wird. Und erlöse uns nicht von dem Bösen ist ein Film wie ein Aufschrei, ein Plädoyer für Anarchie, Revolte und Ekstase – böse, gemein und genau in dieser Haltung unglaublich betörend, befreiend und voller Poesie.

Wie gewöhnlich (und das ist das Außergewöhnliche) ist die Veröffentlichung des Labels Bildstörung eine echte Perle in der DVD-Landschaft, weil sich die Macher der Drop out-Reihe einmal mehr um die Hebung verborgener und verloren geglaubter Schätze vom Außenseiter des Arthouse-Kinos überwiegend europäischer Herkunft verdient machen. Ergänzt wird die gelungene Edition von einem überaus lesenswerten Booklet, im dem dieses Mal der Filmemacher Paul Poet (Empire Me — Der Staat bin ich!) ein kenntnisreiches und fundiertes (und bisweilen fast wütendes) Essay auf den Film verfasst hat.

Joël Séria ist dann trotz dieses Debütwerkes und des Skandals, den er verursacht hatte, einer der Großen des französischen Films geworden, wenngleich er dafür einige Umwege in Kauf nehmen musste. Zunächst hielt er sich in den 1970er Jahren mit seichten Sex-Komödien über Wasser und wechselte anschließend wie viele Kollegen zum Fernsehen, wo er unter anderem einige Folgen der überaus erfolgreichen TV-Serie Nestor Burmas Abenteuer in Paris (1991-2003) mit Guy Marchand in der Hauptrolle drehte. Unter seinen Kinowerken verdient vor allem Marie-Poupée aus dem Jahre 1976 Beachtung, in dem abermals Jeanne Goupil, die nach Und erlöse uns nicht von dem Bösen zu Sérias Lebensgefährtin wurde – der Film kam in Deutschland nie in die Kinos und hat es auch nie zu einer deutschen DVD-Veröffentlichung gebracht, aber vielleicht sorgt ja sein Debüt dafür, dass sich endlich mal jemand an die Veröffentlichung dieses Films macht.

Und erlöse uns nicht von dem Bösen

14 Jahre alt sind die beiden Freundinnen Anne de Boissy (Jeanne Goupil) und Lore Fournier (Catherine Wagener), zwei ganz normale Mädchen in der Pubertät, die eine blond, die andere dunkelhaarig, beide aus gutem Hause stammend und keineswegs das, was man heute gerne vernachlässigt nennt. In der ländlichen Klosterschule irgendwo in der französischen Provinz, wo die beiden Mädchen sittenstreng und strikt katholisch erzogen werden, beginnt alles als kleiner Akt des Widerstandes gegen die Allgegenwart des rechten Glaubens.
  • Trailer
  • Bilder

Meinungen