Über die Jahre

Eine Filmkritik von Patrick Wellinski

Ein Humanist erster Güte

Es liegt ein noch nicht gefasster Reiz in filmischen Langzeitprojekten. Richard Linklater hat das so formuliert: „Man arbeitet mit dem reinen Zufall. Nichts ist garantiert. Das Projekt hat ein offenes Ende. Und das muss nichts Gutes heißen.“
Was Linklater für den Spielfilm als „neuen Horizont“ definiert, das ist im Dokumentarfilm schon häufig probiert worden. Man muss nur an Michael Apteds Up-Serie denken, in der der Brite ein paar Jugendfreunden alle acht Jahre einen Besuch abstattet und einfach nur fragt: Was macht das Leben? Etwas anders — aber nicht weniger effizient — haben es auch Barbara und Winfried Junge in ihren Kindern von Golzow gemacht. In diese Reihe darf sich nun der Österreicher Nikolas Geyrhalter gesellen.

Über die Jahre begleitet zehn Jahre lang eine Gruppe von Arbeitern einer alten Textilfabrik, die 2004 Konkurs anmelden musste. Diese Fabrik, wie wir sie gezeigt bekommen, ist ein Relikt aus einer anderen Zeit. Einer Zeit, in der Arbeitnehmer ihr ganzes Leben lang in einem Betrieb arbeiteten, einer Zeit, die von den Anfängen der Industrialisierung zeugt, einer anderen Arbeitsphilosphie und einem anderen Verhältnis zu den Menschen, die Arbeit verrichten.

Die Fabrik ist ein Familienunternehmen und liegt im Waldviertel an der tschechischen Grenze. Alles wird hier noch per Hand gemacht. Das gilt sowohl für die Buchhaltung als auch für die Textilien. In aller Ruhe zeigt Geyrhalter die Handgriffe und Arbeitsprozesse. Es sind Bilder, die in ihrer Idylle schockierend wirken können. Man muss sich doch nur an die hektischen Aufnahmen aus den Ausbeuterbetrieben in Bangladesch erinnern, um zu erahnen, dass selbst im Jahre 2004, die Art wie hier im österreichischen Hinterland produziert wurde, alles andere als zeitgemäß war.

Deshalb wundert es nicht, wenn man erfährt, dass der Betrieb geschlossen werden muss. Und erst jetzt nimmt Über die Jahre an Fahrt auf. Einigen Mitarbeitern folgt Geyrhalter in die Arbeitslosigkeit und entwirft somit das traurig-zeitgenössische Panorama des modernen Arbeitnehmers. Alle probieren wieder Fuß zu fassen, doch in dieser strukturschwachen Region ist das eigentlich unmöglich. Viele probieren dennoch immer wieder einen Job zu ergattern. Und wie das im Leben nun mal so ist: Einige scheitern, andere halten sich tapfer über Wasser — doch in unserer globalen Arbeitswelt, mitten in Europa, da wird es unter den ehemaligen Textilarbeitern keine Gewinner geben.

Da ist der ehemalige Buchhalter, der eigentlich ein klassischer Einsiedler ist. Sein größtes Hobby ist das Katalogisieren von Volksliedern. Er schreibt alles per Hand auf. Später dann auch auf dem Computer. Er hat ein Waldstück und eine alte Mutter. Ganz am Beginn des Films sagt er sehr hellsichtig: „Ich werde es schwer haben, wenn diese Arbeit wegfällt. Ich bin gerne alleine. Suche keine Gesellschaft.“ Er soll recht behalten.

Da ist auch die ehemalige Packerin, die sich vollends auf die Enkelkinder konzentriert. Doch das Geld reicht hinten und vorne nicht. Die Enkel wirken geistig nicht auf der Höhe. Und ihr Sohn sammelt Aluminiumdosen, um sie zu verkaufen. Es lohnt sich, sagt sie. „Das bringt so 50 Euro.“ Es liegt eine Würde in diesem Satz, die dieses prekäre Leben aber nicht schön reden kann.

Und da ist noch eine Frau, die Sekretärin der alten Textilfabrik. Diese Frau ist, für mich, jetzt schon die Kinobegegnung der Berlinale. In jedem Job, den sie bekommt, leistet sie Übermenschliches. Ohne Probleme fuchst sie sich in jeden Betrieb, begreift schnell und arbeitet ehrlich und voller Tatendrang. Woher kommt diese Kraft? Dieser Wille? Für mich ist diese Frau eine moderne Heldin der Arbeit. Ein Beweis für einen Überlebenswillen, der einfach nur beneidenswert ist. Als ihre tragische Hintergrundgeschichte am Ende der Langzeitdokumentation offengelegt wird, wirkt ihre Leistung umso heroischer.

Geyrhalter hat diese modernen Lebensläufe sachte und distanziert aufgenommen. Manchmal lassen ihn die Menschen nicht so nah ran, wie er es vielleicht gerne hätte aber auch das spricht für seine sensible Art mit seinen Protagonisten zu kommunizieren.

Mit Über die Jahre erweist sich Geyrhalter als Humanist erster Güter, schließlich hat er einen Film über die Menschen gemacht, die bleiben und nicht über die Arbeit, die verschwindet. In dieser Gleichung steckt die ganze Kraft des Langzeitdokumentarfilms, dessen herausragender Meister der österreichische Regisseur nun geworden ist.

Über die Jahre

Es liegt ein noch nicht gefasster Reiz in filmischen Langzeitprojekten. Richard Linklater hat das so formuliert: „Man arbeitet mit dem reinen Zufall. Nichts ist garantiert. Das Projekt hat ein offenes Ende. Und das muss nichts Gutes heißen.“
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