Thumbsucker – Bleib, wie du bist!

Eine Filmkritik von Marcus Wessel

Die betäubte Jugend von White Suburbia

Justin ist ein Thumbsucker, ein Daumenlutscher. Er nutzt jede Gelegenheit, ob auf der Schultoilette oder in seinem eigenen Zimmer, dieser Obsession nachzugehen. Weil seine Eltern und auch sein Kieferorthopäde Dr. Lyman (Keanu Reeves) davon wenig angetan sind, unterzieht sich Justin schließlich einer merkwürdigen Hypnose-Therapie. Mit zweifelhaften Ergebnis: Zwar ist er fortan das Daumenlutschen los, dafür steigert sich seine Unsicherheit in einen unerträglichen Zustand.
Als Justin urplötzlich während des Unterrichts aufsteht und die Klasse verlässt, werden er und seine Eltern (Vincent D’Onofrio und Tilda Swinton) zu einem Gespräch mit der Schulpsychologin zitiert. Diese diagnostiziert bei Justin ein Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätssyndrom. Da hilft nur noch eine Behandlung mit dem Medikament Ritalin. Die kleinen Glücksbringer in Pillenform verwandeln Justin in einen vor Selbstbewusstsein und Glück trunkenen jungen Mann, der die Anerkennung seiner Lehrer, Mitschüler und Eltern zurückgewinnt. So schlägt ihn sein Lehrer Mr. Geary (Vince Vaughn) als Leiter der Debattierklasse vor und auch das Verhältnis zu seinen Eltern verbessert sich ungemein. Doch auf den Rausch folgt auch hier die Ernüchterung. Justins Verhalten nimmt immer manischere Züge an, die er offenbar selber nicht mehr kontrollieren kann.

Es ist mittlerweile ein Markenzeichen amerikanischer Indie-Produktionen, ein erstklassiges Schauspielensemble in einer kleinen, unspektakulären Geschichte auftreten zu lassen. Thumbsucker-Regisseur Mike Mills, dessen Vergangenheit als Videoclip- und Werbefilmer sich in der Inszenierung glücklicherweise nicht in den Vordergrund drängt, fand mit Tilda Swinton, Vincent D’Onofrio und dem sonst im seichten Komödienfach anzutreffenden Vince Vaughn Darsteller, deren Engagement und Hingabe für ihre jeweiligen Rollen auch eine nach unzähligen Coming-of-Age-Dramödien nur mäßig originelle Story aus dem Sammelbecken der mediokren Slacker-Filme herausholen. Lou Taylor Pucci, der für seine Darstellung des Daumenlutschers mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet worden ist, hat hieran selbstredend einen ebenso so großen Anteil.

Thumbsucker — und das ist ihm hoch anzurechnen — geht nicht den Weg des geringsten Widerstandes. So sind Justins Manierismen und sein desöfteren arrogantes bis überhebliches Verhalten nur schwer mit einem an sich liebenswerten Charakter in Einklang zu bringen. Der Zuschauer wird in ein emotionales Wechselbad geschmissen, hin- und hergerissen zwischen einerseits Verständnis für Justins Situation und andererseits Sympathie für dessen Eltern, die sich ehrlich um ihren Sohn sorgen.

Wenn es Thumbsucker an etwas mangelt, dann an einer eigenen Handschrift. Mike Mills charmanter Low Budget-Streifen leidet unter den unweigerlichen Vergleichen mit seinen erfolgreichen und übermächtigen Vorgängern, allen voran dem letztjährigen Filmjuwel Garden State von Zach Braff und Richard Kellys Fantasy-Trip Donnie Darko. Mit dem zum Kult avancierten Donnie Darko verbindet ihn die Sensibilität für das komplexe, undurchsichtige Gefühlsleben eines nach Orientierung und eigener Identität suchenden Teenagers, aus Garden State scheint der stille, feinfühlige Humor entliehen zu sein, bei dem man nie das Gefühl hat, Mills mache sich über seine Figuren lustig. Besonders frappierend ist jedoch die Ähnlichkeit zu der Satire Glück in kleinen Dosen / The Chumscrubber, ebenfalls ein Werk über das Erwachsenenwerden, das die dunkle Seite von White Surburbia thematisiert.

Kritiker der amerikanischen Filmlandschaft werden Thumbsucker aus diesem Grund auch despektierlich als typischen Vertreter des Sundance-Kinos abtun. Innovationen, so ihr Vorwurf, seien unter der Käseglocke dieses Filmfestivals kaum mehr möglich. Aber vielleicht sind Justins Schultern für solch fundamentale Analysen einfach zu schmal und ohne Ritalin auch gefahrlos nicht zu überstehen.

Thumbsucker – Bleib, wie du bist!

Justin ist ein Thumbsucker, ein Daumenlutscher. Er nutzt jede Gelegenheit, ob auf der Schultoilette oder in seinem eigenen Zimmer, dieser Obsession nachzugehen.
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