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Die Sierra Nevada de Santa Marta im Norden Kolumbiens ist eine gleichsam schöne wie unwirtliche Bergkette. Hier auf beinahe 6000 Metern Höhe leben vier indigene Völker unter ständiger Bedrohung von Außen. Alexander Hick ist für seinen Essayfilm über das Schicksal der Arhuacos volles Risiko gegangen.

Thinking Like a Mountain (2018)

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Wir sind nicht der Zorn Gottes

„Das Gebirge denkt mit – und die Arhuacos denken wie die Berge“, äußerte sich Alexander Hick gegenüber dem Publikum des Festivals Max Ophüls Preis in Saarbrücken zu Beginn dieses Jahres. Sein herausragender Abschlussfilm „Thinking Like a Mountain“, der als Herzensprojekt an der HFF München entstanden ist und sich seit der Verleihung des Deutschen Menschenrechts-Filmpreises im Herbst 2018 als regelrechter Darling der Dokumentarfilmbranche (u.a. mit drei ausverkauften Vorstellungen während des DOK.fest München) erwiesen hat, startet nun auch regulär in den deutschen Kinos. 

Als „Bonachi“, wie die indigene Gemeinschaft der Arhuacos „Weiße“ nennt, ist dem Chiemgauer Filmemacher das Kunststück gelungen, das Vertrauen der weitgehend isoliert lebenden Arhuacos zu gewinnen. Über ein Jahr lebte er, zeitweise unterstützt durch seinen Bruder, den Kameramann Immanuel Hick, in beinahe 6000 Metern Höhe – und darüber hinaus selbst oft genug in direkter Bedrohung. Dabei wurden die beiden Brüder nicht nur in 5000 Metern eingeschneit, sondern auch in den grünen Tälern von Zecken übersäet, ehe sie am Fuße dieses gigantischen Gebirges in einem FARC-Guerilla-Camp landeten, wo sie überraschenderweise wiederum auf Arhuacos stießen, die sich einst jener gefürchteten bewaffneten Gruppe angeschlossen hatten. Diese Begegnung ist wiederum nur eine der wunderbaren Wendungen in jenem geradezu magischen Dokumentarfilmessay, das all seine Geheimnisse glücklicherweise nie Preis gibt und offen zu seinen narrativen Leerstellen steht. 

Die langen, durchwegs faszinierenden Einstellungen, die auf dieser extrem filmischen wie persönlichen Reise im Frühjahr 2017 entstanden sind, zeugen von großer bildgestalterischer Meisterschaft und tragen Thinking Like a Mountain über weite Strecken wie von selbst. Caspar David Friedrichs kraftvoll-melancholische Naturvisionen standen Immanuel Hick für seine Bildauflösung sicherlich ebenso Pate wie die ekstatischen Bilderwelten eines anderen Chiemgauer Regisseurs, der seit den 1960er Jahren unsere (Um-)Welt in unvergleichliche Kameraeinstellungen transformiert: Werner Herzog. Beim Zusehen gerät man in Alexander Hicks politisch konnotiertem und auch aus kulturanthropologischer Sicht höchst aufschlussreichem Dokumentarfilm, für den er mühsam exklusives Archivmaterial ergatterte, ähnlich wie in Herzogs Meisterstück Aguirre, der Zorn Gottes streckenweise ins pure Staunen. 

Was sind das doch für einmalige Landschaften! Und mittendrin ein stolze, höchst fesselnde und an sich überaus friedvolle Gemeinschaft, die „seit 500 Jahren“ Widerstand leistet, wie es zu Beginn dieser außergewöhnlichen Dokumentarfilmreise im Off-Kommentar heißt, den Alexander Hick selbst eingesprochen hat. Gegen den Landraub, den Kohleabbau sowie die ungerechten Besitzverhältnisse, die das politisch höchst instabile Kolumbien seit Jahrzehnten in Atem halten. 

Sowie gegen die FARC-Guerillakrieger, die immer wieder zu den Arhuacos ins Hochgebirge flohen, weil sie sich über 50 Jahre lang mit dem Militär wie mit rechtsgerichteten paramilitärischen Gruppen und mächtigen Drogenkartellen einen der blutigsten Bürgerkriege der Geschichte lieferten. Und nun auch zunehmend gegen die massiven Folgen des Klimawandels, da die Gletscher der Sierra Nevada de Santa Marta seit Jahren vor den Augen der traditionell stark naturverbundenen Arhuacos irreversibel zusammenschmelzen.

„Mir hat dieser Film eine völlig andere Wahrnehmung der Welt gezeigt“, erläutert am Telefon der in Spanien, Kolumbien und Deutschland lebende Regisseur, der auch als staatlich geprüfter Bergführer arbeitet, seinen eigenen Erkenntnisgewinn. „Ich wünsche mir gar kein spezielles Publikum für diesen Film“, ergänzt Alexander Hick im Hinblick auf den Kinostart. „Ich will vielmehr damit klarmachen, dass es sich lohnt, Widerstand zu leisten. Und natürlich kritisiere ich in Thinking Like a Mountain auch die Lebensweise der westlichen Menschen, weil kolumbianische Kohle zum Beispiel oft in Deutschland landet.“ 

 

Diesen leise anprangernden, aber durchaus revolutionären Impetus spürt man in Alexander Hicks traumwandlerischer Filmexpedition bis zum Schluss. Neben einzigartigen Einblicken in das stark bedrohte Leben der Arhuacos entfaltet sich gerade in der zutiefst respektvollen und mehrheitlich stark poetisierten Inszenierungsweise des jungen Regisseurs ein nachhaltiger Bilderreigen, der auf sehr intelligente Weise die Genese des Postkolonialismus mit der innenpolitisch brisanten Gegenwart des südamerikanischen Staates mitdiskutiert. 

 

Als „Spurenleser“ bezeichnet sich Alexander Hick selbst völlig zurecht. Dem 1985 geborenen Filmkünstler wünscht man, dass er auch in Zukunft noch viele filmische Expeditionen starten wird. Denn Hicks großes narratives wie visuelles Talent ist in Thinking Like a Mountain jederzeit greifbar. 

Thinking Like a Mountain (2018)

Zum ersten Mal begleitet ein Filmemacher das kolumbianische Bergvolk der Arhuacos und erzählt deren spannende Geschichte des Widerstands.

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