The Tiniest Place

Eine Filmkritik von Kirsten Kieninger

Die Gegenwart der Vergangenheit

Man kann es kaum glauben, dass dieser Film ein Debütfilm ist. The Tiniest Place / El lugar más pequeñoe ist der erste abendfüllende Dokumentarfilm, den Tatiana Huezo Sánchez realisiert hat — und das mit einer derart beeindruckenden filmischen Handschrift, wie man sie nur selten sieht. Kein Wunder also, dass die Festival-Preise diesem Film nur so zufliegen. Außer der Goldenen Taube im Internationalen Wettbewerb in Leipzig unter anderem auch der Spezialpreis der Jury des Abu Dhabi Film Festivals und der Große Preis der Visions de Réel in Nyon.
Dabei hat die mexikanische Filmemacherin kein leichtes Thema gewählt: Die Traumata des Bürgerkrieges von El Salvador. Kein Thema, bei dem man einen Film erwarten würde, der auch gerade durch seine visuelle Schönheit überzeugt. Doch in The Tiniest Place / El lugar más pequeño liegen Schönheit und Schrecken, Leben und Tod, Gestern und Heute, Dorfalltag und Traumabewältigung nicht nur dicht beieinander, sie durchdringen sich gegenseitig, sind ohne einander gar nicht denkbar an dem Ort, den der Film erkundet und dessen Geister er auf seine ganz eigene Weise heraufbeschwört.

Der Film nimmt den Zuschauer mit nach Cinquera, besser gesagt nach Nueva Cinquera, denn das alte Dorf wurde während des 1979 ausgebrochenen Bürgerkrieges völlig zerbombt, weil es als Guerilla-Hochburg galt. Viele der überlebenden Bewohner, die geflohenen waren, kehrten nach dem Kriegsende 1992 an den Ort ihrer Heimat zurück und bauten das Dorf wieder auf. Heute ist der Krieg zwar Vergangenheit, aber nicht vergessen.

Davon künden die Stimmen der Dorfbewohner, die auf der Tonspur anheben, um nach und nach in fragmentarischen Erzählungen ein kollektives Gedächtnis zu orchestrieren, während sich die Bilder zu einem lebendigen Mosaik des Dorfalltags fügen. Die Bewohner sind, während sie im Off von der Vergangenheit berichten, im Hier und Jetzt aktiv. Kühe hüten, Kaffee anbauen, Eier zum Ausbrüten kaufen – die Menschen halten in ihrem Tagwerk nicht inne, um vor der Kamera von ihren Erlebnissen zu berichten. Das Leben geht selbstverständlich weiter, während auf der Tonspur in den Worten die Schrecken des Krieges immer lebendiger werden. Die Regisseurin braucht kein Archivmaterial, um die Vergangenheit zu bebildern. Einzelne Geräusche wie Stiefeltritte oder Flugzeuglärm, dramaturgisch sensibel gesetzt, reichen völlig aus, und der Krieg erhält Einzug im Kopf des Zuschauers. Wenn sich dann in einer der durchweg atmosphärisch dichten und sensiblen Kamera-Einstellungen einige Frühnebel-Schwaden in den Wäldern verziehen, glaubt man fast, den Rauch der Bombenangriffe von damals zu sehen.

Die Tongestaltung des Films ist ungemein plastisch, vertraut ganz auf die Fülle der Geräusche und nimmt nur vereinzelt atmosphärische Musik zu Hilfe. Die Kamera ist ganz dicht dran an der Natur, durchkämmt den Wald, der damals Zufluchtsort war, erkundet die Pfade, die dieselben sind wie damals und stöbert unter dem Laub irgendwann tatsächlich verrottete Stiefel und Uniformen auf. Immer mehr durchdringen sich Vergangenheit und Gegenwart in Bild und Ton. Die sensibel gesteigerte Engführung findet ihren dramatischen Höhepunkt, als einer der Dorfbewohner wieder in die Höhle klettert, in der er sich mit anderen Dorfbewohnern in Todesangst drei Jahre lang versteckt hielt, bevor sie gefunden wurden. Die beklemmende Gegenwart der Vergangenheit ist in der Dunkelheit fast physisch spürbar und schwer zu ertragen.

Tatiana Huezo Sánchez gelingt das Kunststück, dass der Film so viel mehr ist, als eine bloße Aufarbeitung der Bürgerkriegs-Traumata und eine respektvolle Erinnerung an die Opfer. The Tiniest Place / El lugar más pequeño ist vielmehr auch eine liebevolle Ode an die Dorfgemeinschaft, die in wunderbaren Montagesequenzen zusammengeführt und mit viel Zuneigung porträtiert wird (die Großmutter der Regisseurin stammt aus Cinquera). Es ist schön zu sehen, dass neue Küken geboren werden und es ist schön zu hören, wie einige Bewohner nach dem tragischen Verlust ihrer Liebsten trotzdem neue Perspektiven auf das Leben gefunden haben. Der Krieg ist nicht vergessen. Aber das Leben geht weiter.

The Tiniest Place

Man kann es kaum glauben, dass dieser Film ein Debütfilm ist. „The Tiniest Place“ / „El lugar más pequeño“ ist der erste abendfüllende Dokumentarfilm, den Tatiana Huezo Sánchez realisiert hat — und das mit einer derart beeindruckenden filmischen Handschrift, wie man sie nur selten sieht. Kein Wunder also, dass die Festival-Preise diesem Film nur so zufliegen.
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