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Ein Film, der sich einschleicht, in Körper und Seele, der einen nicht mehr loslässt, den man nie wieder vergessen wird. Und bei dem man doch vorsichtig ist zu sagen: Seht ihn euch an!

The Tale (2018)

Eine Filmkritik von Sonja Hartl

Geschichte und Erinnerung

„The story you’re about to see is true. As far as I know“ ist am Anfang aus dem Off zu hören. Jennifer (Laura Dern) weiß, wie wichtig Geschichten sind. Sie formen unserer Erinnerung, sie vermitteln uns Einblicke in Realitäten – und sie lassen unsere Identität entstehen. Als Dokumentarfilmerin hat sie schon viele Geschichten erzählt, von anderen, vornehmlich Frauen. Doch nun ist es eine Erzählung, die sie als 13-Jährige geschrieben hat, die in „The Tale“ einen schmerzhaften, lebensverändernden Erinnerungsprozess in Gang setzt.

Ihre Mutter Nettie (Ellen Burstyn) hat die Erzählung gefunden, die Jennifer in einer Englischklasse geschrieben hat – und ist alarmiert: Was hat ihre Tochter erlebt, was sie ihr niemals erzählt hat? Anfangs spielt Jennifer die Aufregung ihrer Mutter gegenüber ihrem Verlobten Martin (Common) herunter, sie hätte damals über ihre Liebesbeziehung mit einem älteren Freund geschrieben, von dem ihre Mutter nichts gewusst hätte. Doch Nettie schickt ihr diesen Aufsatz und nach und nach wird Jennifer klar, dass es keine Liebesgeschichte ist, die sie dort erzählt.

Also versucht sie sich zu erinnern. Sie weiß, dass sie sich damals unbedingt verändern wollte, aber sie weiß nicht mehr, wer sie damals war – und wie sie die geworden ist, die sie heute ist. Es beginnt eine langsame Rückeroberung der eigenen Biographie, die die ZuschauerInnen mit Jennifer erfahren und durchleben. Jedoch gibt es hier keine Rückblenden im üblichen Sinne, vielmehr ist die erwachsene Jennifer gleichermaßen Autorin, Erzählerin und Protagonistin dieser Geschichte. Sie ist stets in den Erinnerungen präsent – mal im Bild, mal auf der Ton-Ebene, immer aber in dem Gezeigten, entweder als Erwachsene oder als Mädchen, manchmal sogar beides zugleich. 

Aber Erinnerungen sind niemals korrekt, deshalb passen sich die Bilder an, wenn Jennifer etwas erfährt, was sie vergessen oder falsch erinnert hat. Das erste eindrucksvolle Beispiel hierfür ist das optische Erscheinungsbild der damals 13-jährigen Jennifer. Ganz am Anfang erinnert sie sich an sich als Jugendliche (Jessica Sarah Flaum), aber ihre Mutter weist sie später daraufhin, dass sie auf diesem Bild, das Grundlage ihrer Erinnerung war, bereits 15 Jahre alt ist und zeigt ihr ein zwei Jahre früheres Bild. Daraufhin wird das Mädchen in ihren Erinnerungen ebenfalls kleiner, kindlicher – nicht mehr Jessica Sarah Flaum spielt sie, sondern Isabelle Nélisse. Das ist ein wichtiger Unterscheid, er zeigt nicht nur, wie unzuverlässig Erinnerungen sein können, sondern vor allem, dass die erwachsene Jennifer sich weitaus reifer und erwachsener erinnert. Denn mit 13 Jahren hat sie die Reitlehrerin Mrs. G. (Elizabeth Debicki) und den rund 40-jährigen Lauftrainer Bill (Jason Ritter) kennengelernt, durch die sie sexualisierte Gewalt erfahren wird. 

Allein schon in der filmsprachlichen Inszenierung verhandelt Regisseurin und Drehbuchautorin Jennifer Fox viele Aspekte dieser Geschichte, die sie erzählt und die auch ihre eigene ist: die Authentizität und Beeinflussbarkeit von Erinnerungen, die Zweifel, die wir an eigenen Erinnerungen haben können, die Macht der Geschichten, die wir uns über uns erzählen. Es bleiben Widersprüche, Unsicherheiten, kleine falsche Erinnerungen. Einmal glaubt Jennifer, es habe geschneit, es sei Weihnachten gewesen, erfährt dann aber, dass es erst Herbst war. Solche „Fehler“ machen wir alle, aber in einem Prozess würden sie dem Täter helfen, davonzukommen. Aber es geht hier weniger um eine strafrechtliche Verfolgung als vielmehr um den Versuch, die eigene Geschichte zurückzuerobern. 

Eine weitere Ebene wird in den Film durch Jennifers Reflexion in der Gegenwart gezogen: sie ist eine Frau, die stark und unabhängig ist. Sie will sich nicht als Opfer sehen, sie will nicht sehen, dass das, was ihr angetan wurde, ihr Leben beeinflusst hat. Es ist ein schmerzhafter Prozess, den sie durchlebt – und zugleich wird sehr deutlich, dass es nicht die eine Art gibt, Opfer zu sein. Eine angemessene Reaktion. Ebenso wenig wie es nur eine Form von Täterschaft gibt. 

Jedoch wird niemals infrage gestellt, wer die Schuldigen sind. In jeder Szene, in der Jennifer, Mrs. G und Bill zu sehen sind, wird klar, wer hier die Verantwortung trägt. Wer wissen muss, dass es falsch ist, was geschieht. In Filmen werden gerade Mädchen oftmals als verführerisch dargestellt, als neckisch, kokettierend, flirtend. Damit hängt immer auch die Wahrnehmung zusammen, die sich seit Lolita so fest verankert hat: auch das Mädchen verführt – und trägt damit eine Mitschuld, wenn der Mann nicht widerstehen kann.

Hier nicht. Hier wird sehr klar, warum sich Jennifer zu ihnen hingezogen fühlt. Warum sie glauben will, was diese Erwachsenen ihr über Liebe und Erwachsensein erzählen. Denn welcher Teenager möchte nicht hören, dass er besonders ist? Reif. Vernünftig. Einzigartig. Doch es ist auch in jedem Bild zu erkennen, dass das vermeintliche Verführerische allein in den Augen des Täters liegt. Das ist eine eindrucksvolle Dekonstruktion des männlichen Blicks im Kino, der so verbreitet ist, das er als üblich angesehen wird, an den wir uns so gewöhnt haben. Doch dieses 13-jährige Mädchen ist ein Kind. Was sie als „love making“ erinnert, ist fortgesetzte sexuelle Gewalt und Vergewaltigung. 

Roh und direkt wird hier deutlich, wie ein 13-jähriges Mädchen mit dem Erlebten fertig wurde, wie sehr sich Psyche und Physis in den Reaktionen unterscheiden können. In den Szenen, die sexuelle Gewalt zeigen, zeigt die Kamera Close-ups von Jennifers Gesicht, die es bisweilen unerträglich machen, weiter hinzuschauen. Dabei ist Jason Ritters Bill niemals brutal, sondern unfassbar überzeugend in seinem Auftreten und Charisma. Was er diesem Mädchen sagt, zieht einem die Gedärme zusammen – nicht aufgrund seiner Obszönität, ganz im Gegenteil: aufgrund der Sanftheit, des liebevollen Verständnisses, das dort herausklingt. Und man weiß, wie das auf ein 13-jähriges Mädchen wirken kann.

Elizabeth Debicki ist brutal glaubwürdig in diesem Film, gerade auch in den imaginierten Konfrontationen mit der erwachsenen Jennifer aus dem Off. An einem Punkt wird sie einen Satz sagen, den man oft hört in diesen Fällen. Aber er erschüttert hier bis ins Mark. Herausragend in einem beeindruckenden Cast sind indes Isabelle Nélisse und Laura Dern, die auf einzigartige Weise Stärke, Mut und Zerbrechlichkeit verbinden und den Film von Anfang bis Ende tragen. Man spürt ihr verzweifeltes Aufbegehren in jeder Sekunde. Und wenn die erwachsene Jennifer schließlich zusammenbricht, bricht etwas in einem mit. 

Es ist bisweilen sehr schwer, diesen Film zu sehen. Er erschüttert und verstört. Nicht weil er ausbeuterisch oder explizit ist, ganz im Gegenteil: Es sind die Bilder und das Wissen, von dem, was kommen wird, von den Folgen, die sich in einen einschleichen. Körperlich. Seelisch. Es ist ein Film, der einen verstehen lässt. Und nie wieder loslässt. 

The Tale (2018)

Jennifer führt ein glückliches und ausgefülltes Leben in New York, bis eines Tages ein Anruf ihrer Mutter sie aus ihrem Trott reißt. Diese hat beim Aufräumen ein altes Tagebuch entdeckt, in dem die damals 13-jährige irritierende Details über die seltsame Beziehung zu einem Trainer und dessen Geliebter schildert. Zwar schwört Jennifer, dass dies alles nur eine Geschichte sei, doch irgendwann misstraut sie sich selbst und beginnt Nachforschungen anzustellen …

 

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