Der Schneemann (2017)

Eine Filmkritik von Sonja Hartl

Verloren in Norwegen

Eine beklemmende Sequenz steht am Anfang von Schneemann: Ein Junge schaut aus dem Fenster eines Holzhauses und sieht im kalten, winterlichen Norwegen ein Auto auf das Haus zufahren. Er ruft seiner Mutter (Sofia Helin) zu, dass Onkel Jonas (Peter Dalle) komme – sie reagiert aufgeregt, sagt aber, es sei der falsche Wochentag. Die Aufregung von Mutter und Sohn sind verständlich, denn nachdem der Besucher einige Vorräte eingeräumt hat, beginnt er, den Jungen Daten historischer Ereignisse abzufragen. Und für jede falsche Antwort schlägt er die Mutter. Irgendwann rennt der Junge aus dem Haus, er baut einen Schneemann, während zu hören ist, was zeitgleich drinnen geschieht. Dann bringt seine Mutter dieses Machtgefüge durcheinander – mit fatalen Folgen.

Zu diesem Zeitpunkt scheint Tomas Alfredsons Adaption des gleichnamigen Bestsellers von Jo Nesbø noch düster-kalte Thrillerkost zu versprechen. Die Handlung springt in die Gegenwart und Harry Hole (Michael Fassbender) liegt im beginnenden Winter in Norwegen auf einer Parkbank, verkatert von dem Absturz in der Nacht. Michael Fassbender passt gut in die Rolle das abgewrackten, versoffenen, egoistischen Polizisten, er ist groß, sein Gesicht sieht zerknittert aus, außerdem hat er stets diesen Leidenszug, der innere Dämonen vermuten lässt. Deshalb muss man eigentlich nur darüber hinwegsehen, dass die meisten Trinker nicht so gut in Form sind wie er und weitaus verlotterter aussehen. Es geht Hole nicht gut, er hat keinen Fall und seine Ex-Freundin Rakel Fauske (Charlotte Gainsbourg) scheint mit dem Schönheitschirurgen Mathias Lund-Helgesen (Jonas Karlsson) glücklich zu sein. Hole schleppt sich nun zur Arbeit, das erste Mal seit vier Wochen, und bekommt dort einen anonymen Brief, der mit der Zeichnung eines Schneemanns signiert ist. Außerdem begegnet er seiner neuen Kollegin, Katerine Bratt (Rebecca Ferguson). Sie wird zu einem Vermisstenfall gerufen, Hole begleitet sie – und schon bald entdecken sie eine beunruhigende Serie von vermissten Frauen.

Nach ungefähr dem ersten Fünftel des zwei Stunden langen Films gibt es somit bereits vier Erzählstränge – den Jungen, Harrys Holes Beziehung zu Rakel, die Karte mit dem Schneemann und die Ermittlungen in dem Verschwinden einiger Frauen –, zu denen sich nun eine weitere Rückblende gesellt, die nach Bergen und zu einem alten Fall führt, in dessen Zentrum ein weiterer versoffener Ermittler steht — Gert Rafto, der von Val Kilmer mit kaum mehr beweglichen Gesicht gespielt wird. Spätestens hier wird deutlich, dass der Film immer mehr zerfasert, sich immer mehr verrennt in den vielen falschen Fährten, die er auslegen will und die wenig durchdacht sind. Gleich zwei in Adaptionen erfahrene Drehbuchautoren waren hier am Werk: Hossein Amini (Drive, Die zwei Gesichter des Januars, Verräter wie wir) und Peter Straughan (Dame, König, As, Spion, Männer, die auf Ziegen starren, Frank). Hinzu kommt Søren Sveistrup, der immerhin Kommissarin Lund entwickelt und geschrieben hat.

Drei Drehbuchautoren lassen vermuten, dass der Adaptionsprozess nicht einfach war und tatsächlich funktioniert vieles, was in diesem Film zu sehen ist, im Buch besser: Das beginnt bei dem Schneemann, der im Bild niemals so unheimlich erscheint wie in den Beschreibungen des Buches, weil ihm jene Aura des imaginierten Bösen fehlt. Diese Unstimmigkeiten setzen sich dann unter anderem bei dem Versuch fort, den Täter möglichst lange geheim zu halten, obwohl doch jedem Zuschauer, der auch nur mehr als einen Thriller gesehen oder gelesen hat, klar ist, dass in der anfänglichen Rückblende der Schlüssel zu allem liegt. Damit bleiben aber letztlich zu viele Fragen offen – es wird nicht erklärt, was es mit den Fotos des Geschäftsmannes Arve Step (J.K. Simmons) auf sich hat, eine junge Frau, die im Haus des Arztes Idar Vetlesen (David Dencik), wird schlichtweg vergessen. Hier wird eine der vielen vielversprechenden Verbindungen des Films einfach verschenkt, um weitere Verdächtige einzuführen. Dabei wird beständig suggeriert, hinter den Taten des Mannes, der Frauen entführt und ermordet und dabei einen Schneemann hinterlässt, stünde mehr als die Taten eines psychopathischen Serienmörders. Aber natürlich wird auch dieses Versprechen nicht eingelöst.

Sicherlich gibt es schon in der Romanvorlage viele Handlungsstränge, aber hier hätte sich die Adaption viel mehr Freiheit nehmen müssen. Nun hangelt er sich von Ereignis zu Ereignis, verschenkt Nebendarsteller_innen wie J.K. Simmons, Sofia Helin, Toby Jones und Chloë Sevigny, beinhaltet einige unnötige Anschlussfehler und findet niemals die Balance zwischen Ästhetik und Grausamkeit. Zerstückelte Frauenleichen eignen sich nicht zu Ästhetisierung, daran kann auch der Gegensatz zwischen weißem Schnee und rotem Blut nichts ändern.

Es ist erstaunlich, dass Tomas Alfredson hier nicht gelingt, was er in So finster die Nacht und Dame, König, As, Spion so famos vorgeführt hat: Er findet keinen Ton, keinen Zugang zu seinen Charakteren. Sogar Harry Hole bleibt – falls man die Bücher nicht gelesen hat – weitgehend blass und erscheint lediglich als ein weiterer versoffener Ermittler, der über seine Arbeit alles vergisst, dem aber sein Umfeld alles verzeiht. Sicherlich stimmt die Chemie zwischen Fassbender und Gainsbourg, aber es wird niemals verständlich, warum sie sich getrennt haben.

Vielleicht passen Regisseur, Material und die Absicht, einen „großen Thriller“ zu inszenieren, auch nicht zusammen: Die Stärken von Alfredsons Le-Carré-Adaption Dame, König, As, Spion liegen in der Konzentration und der kühlen Eleganz der Inszenierung. Hier jedoch lenkt genau diese Konzentration das Augenmerk auf die Fehler und lässt den Film erscheinen, als hätte jemand versucht, die vermeintliche Erfolgsformel skandinavischer Thriller – Winter plus gewaltvolle Morde plus viele Handlungsstränge plus kaputte Hauptfigur – abzuspulen, dabei aber übersehen, dass sich ein guter Film nicht berechnen lässt.
 

Der Schneemann (2017)

Eine beklemmende Sequenz steht am Anfang von Schneemann: Ein Junge schaut aus dem Fenster eines Holzhauses und sieht im kalten, winterlichen Norwegen ein Auto auf das Haus zufahren. Er ruft seiner Mutter (Sofia Helin) zu, dass Onkel Jonas (Peter Dalle) komme – sie reagiert aufgeregt, sagt aber, es sei der falsche Wochentag.

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