The Halfmoon Files

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Eine Geistergeschichte

„Es war einmal ein Mann. Er geriet in den europäischen Krieg. Deutschland nahm diesen Mann gefangen. Er möchte nach Indien zurückkehren. Wenn Gott gnädig ist, wird er bald Frieden machen. Dann wird dieser Mann von hier fortgehen.“ Geisterhaft klingt die Stimme, die knisternd und mit akustischer Patina aus dem Trichter eines alten Grammophons dringt. Es sind die Worte des Inders Mall Singh, die dieser im Jahre 1916 in Wünsdorf bei Berlin aufnahm. Singh war einer von Hunderten Kolonialsoldaten, die während des Ersten Weltkrieges in deutsche Kriegsgefangenschaft gerieten, ein Schicksal, dessen Dimension sich bislang einzig und allein als Nummer auf einem alten Archivstück befand. In seinem Dokumentarfilm The Halfmoon Files spürt der Filmemacher Philip Scheffner diesen vergessenen Menschen im Räderwerk der großen Politik und des Krieges nach.
Mall Singh war wie viele andere Kriegsgefangene nördlich von Berlin im so genannten „Halbmond-Lager“ – daher der Name des Films – interniert; ein Lager, das speziell für die Aufnahme muslimischer Gefangener eingerichtet worden war. Man hoffte, die Insassen durch zuvorkommende und rücksichtsvolle Behandlung auf die Seite des Deutschen Reiches ziehen zu können, um so Aufstände gegen die Kolonialherren in Bewegung zu bringen und so den Gegner entscheidend zu schwächen. Doch als die Strategie nicht aufging, verloren die Strategen das Interesse, und stattdessen gingen Ethnologen, Anthropologen und Sprachforscher im Halbmond-Lager ein und aus, boten doch die dort internierten Gefangenen die seltene Gelegenheit, „exotische Menschen“ aus nächster Nähe als Studienobjekte zu begreifen und zu behandeln. Akribisch und penibel wurden die Gefangenen vermessen, befragt und ausgeforscht, mit einer Mischung aus wissenschaftlichem Forscherdrang und unverhohlenem Rassismus zu reinen Objekten degradiert.

Philip Scheffner macht die Aufnahmen von Mall Singh, die während dieser Untersuchungen entstanden, zum Ausgangspunkt seiner Recherchen, die bruchstückhaft bleiben (müssen), das Schicksal des Mannes aus Nordindien ist teilweise dem Vergessen anheim gefallen. Scheffner aber macht aus der Not, aus der Beschränkung des Materials eine Tugend, erfindet nichts hinzu, dramatisiert keine Szenen nach: Wo Bildmaterial fehlt, bleibt die Leinwand dunkel, wodurch die Stimmen von Mall Singh und seinen Mitgefangenen in den Mittelpunkt treten. Geschickt entwirft Scheffner ein Bild, das trotz der Beschränkungen vielfältige Einblicke in eine Randepisode des Ersten Weltkrieges gibt, die doch für Männer wie Mall Singh und die namenlosen anderen Gefangenen des Lagers Schicksal war. The Halfmoon Files ist ein spannendes Filmessay, das vielschichtig und klug den geisterhaften Stimmen auf alten Tondokumenten nachspürt, ihnen wieder eine Geschichte und damit ihre Würde gibt.

The Halfmoon Files

Es war einmal ein Mann. Er geriet in den europäischen Krieg. Deutschland nahm diesen Mann gefangen. Er möchte nach Indien zurückkehren. Wenn Gott gnädig ist, wird er bald Frieden machen. Dann wird dieser Mann von hier fortgehen.
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