Sieranevada (2016)

Eine Filmkritik von Beatrice Behn

Hunger, Trauerfeiern und andere Widrigkeiten

Lary (Mimi Branescu) hat Hunger. Er hat sich schon durch den Verkehr gequält und ist mehrmals um den Block gefahren, denn es gibt einfach keine Parkplätze. Seine Frau Laura (Catalina Moga) hat ihn schon angebrüllt, weil er das falsche Kostüm für die Tochter gekauft hat. Schneewittchen sollte es sein. Lary hat Cinderella gekauft. Er sah da keinen Unterschied. Ehefrau und Tochter schon. Und der eigentlich anstrengende Teil des Tages hat noch gar nicht begonnen: Emils Leichenschmaus. Vor Ort ist die Hölle los. Die ganze Verwandtschaft ist da und stopft sich in die paar Zimmer: die Küche, voller Raucher und Essen, das bereitet wird, das Wohnzimmer mit dem großen Tisch und den vergilbten, staubigen Gardinen, das Schlafzimmer und das Arbeitszimmer, in dem Emil, symbolisch durch einen Anzug, aufgebahrt ist.

Lary hat Hunger. Es gibt bald Krautwickel und Polenta. Aber erst, wenn der Priester da war. Seine Schwester Sandra (Judith State) streitet sich unterdessen mit der alten Tante, die noch immer Hardcore-Kommunistin ist und den Priester für seine Verspätung am liebsten in den Knast werfen würde. So wie damals. Währenddessen weint Tante Ofelia (Ana Ciontea), weil sie Streit mit ihrem Mann hatte. Schwager Gabi (Rolando Matsangos) und Neffe Sebi (Marin Grigore) sprechen über 9/11-Verschwörungstheorien. Bruder Relu (Bogdan Dumitrache) stimmt ein wenig mit ein. Er darf sich eigentlich nicht politisch äußern; er arbeitet bei der Armee. Alle warten. In staubigen und zu engen Zimmern mit dunklen Möbeln. Das Licht schimmert bläulich. Die Räume scheinen in der Zeit stehen geblieben zu sein. Alles ist ein wenig antiquiert. Außer der neuen Nespresso-Maschine. Und der Priester? Lässt sich Zeit. Im Haus duftet es herrlich nach Essen. Krautwickel und Polenta. Herrlich. Aber gefangen unter einer dicken Haut von Frischhaltefolie.

Subkutan sind auch die menschlichen Ereignisse, die sich in Cristi Puius (Der Tod des Herrn Lazarescu) Film Sieranevada ganz langsam und zwischen den Zeilen entfalten. Der Meister der rumänischen Nouvelle Vague lässt sich Zeit. Drei Stunden dauert sein Film. Keine Sekunde davon ist zu viel oder langweilig. Puius Kamera packt den Zuschauer bei seiner Schaulust. Als Voyeur steht sie stets fest an einem bestimmten Platz und schwenkt von links nach rechts, immer dorthin, wo gerade etwas passiert. Ganz wie Augen, als säße man bei der Familie wie jemand, der nicht beachtet wird. Das Kino kennt viele solcher Kammerspiele, die eine Familie (gerne zu Thanksgiving) an einem Tisch zusammenkommen lassen, um genüsslich dabei zuzusehen, wie die Masken fallen. Sieranevada ist anders. Die Konflikte kommen und gehen wie Ebbe und Flut. Angst vor der Zukunft, Verbitterung durch die Vergangenheit, Terrorpanik und Ehekrisen wechseln sich ab mit Späßen, Momenten der Innigkeit und liebevollen Sticheleien. Und natürlich dem einen Akt, der alle zusammenbringt. Denn endlich war der Priester da. Jetzt könnte man essen.

Und Lary stirbt bald vor Hunger. Aber halt — es gibt noch diese Sitte aus dem Ort, aus dem Emil stammt, der sich irgendwann als Lary Vater herausstellt. Sebi muss Emils Anzug tragen. Doch der ist viel zu groß. Man muss ihn umnähen. Das Essen wird abermals eingepackt. Dann wieder aus. Doch nun stören störrische Verwandte und betrunkene Kroatinnen. Herrje, wird man denn hier jemals etwas zu essen bekommen? Ganz nebenbei fängt Puius noch die Muster der patriarchalen Gesellschaft Rumäniens ein. Sie ziehen sich durch jedes Bild. Die Frauen kochen und kümmern sich, die Männer sitzen, warten auf Essen und vertreiben sich die Zeit. Und ganz nebenbei wird in ein paar herrlich tragischen und gleichsam herrlich neurotischen Momenten an den Oberflächen der Ehen und Beziehungen gekratzt. Zum Vorschein kommen enttäuschte Frauen und Männer, die außerhalb der Ehe aktiver sind als innerhalb. Aber auch Frauen, die in der Familie das Sagen haben und sich gegenseitig das Leben in Kleinkriegen schwermachen. Und dann ist da noch das leidige Thema der Vergangenheitsbewältigung, die sich hier im Kleinen in der Küche austrägt. Während der Borschtsch blubbert, köcheln die Meinungen ebenfalls vor sich hin. Die einen sehnen sich nach den Zeiten von König Karl II. zurück, der in den 1930er Jahren durchaus angetan war vom Nationalsozialismus, die anderen trauern den sozialistischen Zeiten Rumäniens hinterher. Karl II. und General Antonescu gegen Nicolae Ceaușescu – rechts gegen links und doch nur zwei Regime, die beide das Denken und Handeln aushebeln. Für sich denken und handeln, das sei gefährlich, aber nötig, postuliert Relu, der Armeeoffizier. Er will austreten, damit er auch mal eine eigene Meinung haben darf.

Und dann gibt es Essen. Endlich.
 

Sieranevada (2016)

Lary (Mimi Branescu) hat Hunger. Er hat sich schon durch den Verkehr gequält und ist mehrmals um den Block gefahren, denn es gibt einfach keine Parkplätze. Seine Frau Laura (Catalina Moga) hat ihn schon angebrüllt, weil er das falsche Kostüm für die Tochter gekauft hat. Schneewittchen sollte es sein. Lary hat Cinderella gekauft. Er sah da keinen Unterschied. Ehefrau und Tochter schon.

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