Shoah (Blu-ray)

Eine Filmkritik von Falk Straub

Gegen das Vergessen

Claude Lanzmanns Shoah feierte im Februar 1986 während der 36. Berlinale seine Deutschlandpremiere. Auch drei Jahrzehnte danach hat dieser monumentale Dokumentarfilm über den Völkermord der Nationalsozialisten an den europäischen Juden nichts von seiner Kraft und Bedeutung verloren. Nun erscheint er erstmals auf Blu-ray.
„Ich glaube, die menschliche Sprache reicht nicht aus, um die Schrecken des Ghettos zu beschreiben“, sagt Simha Rotem, als er versucht, seine Zeit in Warschau zu erinnern. Vor Claude Lanzmanns Kamera fasst er die Schrecken dennoch in Worte. Es sind diese Worte, die die Zeitzeugen ihren Erinnerungen abringen, das was und vor allem wie sie es formulieren, die Shoah zu einem Zeugnis machen, dessen Bedeutung gar nicht hoch genug bemessen werden kann.

Das Wort „Shoah“ bedeutet Abgrund, Vernichtung, Dunkelheit, große Katastrophe, Unheil, Untergang. Inzwischen ist es synonym mit dem Begriff „Holocaust“. Als sich der französische Filmemacher Claude Lanzmann 1973 auf Spurensuche für seinen zweiten Kinofilm machte, wusste er weder, was „Shoah“ bedeutet, noch hatte er einen Titel für seinen Film im Kopf. Innerhalb der nächsten zwölf Jahre reiste Lanzmann quer durch Europa, in die USA und nach Israel, besuchte die Überreste der Vernichtungslager, sprach mit Historikern, Opfern, Anwohnern und Tätern. Drei Jahre dauerten alleine die Recherche und die Vorbereitung, die Dreharbeiten erstreckten sich über weitere fünf. Mit 350 Stunden Material ging Lanzmann in den Schneideraum. Das Ergebnis erschlägt den Betrachter bereits durch seine schiere Länge. Absolut Medien bringt Shoah in einer restaurierten Fassung nun erstmals auf Blu-ray heraus. Wer den zweiteiligen, 566 Minuten langen Dokumentarfilm noch nicht gesehen hat, sollte das unbedingt nachholen.

Wie das Unbeschreibbare beschreiben, wie das Unfassbare erfassen? Diese Frage, die sich Simha Rotem im Film stellt und die bis heute Debatten befeuert, hat auch Lanzmann umgetrieben. Er hat sich dafür entschieden, komplett auf Archivmaterial zu verzichten, was seinen Dokumentarfilm umso eindrucksvoller macht. Shoah zeigt die Überreste der Lager, die Zeitzeugen und deren Reaktionen auf Lanzmanns Fragen.

Um an die Aussagen seiner Interviewpartner zu kommen, lotet Lanzmann Grenzen aus. Einige Täter filmt er mit versteckter Kamera. Einige der Opfer bringt er an die Orte der Vernichtung zurück oder inszeniert sie in gestellten Situationen, um sie zum Sprechen zu bringen. Mehr als einmal brechen sie vor laufender Kamera zusammen. Doch Lanzmann zwingt sie weiterzusprechen, zwingt sie, sich und sein Publikum durch diese unerträglichen Situationen. Die Beteiligten können es ihm nicht verübeln, sind sie sich doch der historischen Bedeutung dieser Aufnahmen bewusst.

Es ist erstaunlich, dass der Regisseur nicht die Fassung verliert, angesichts der Lügen der Täter. Doch seine Besonnenheit ist Teil des Konzepts. (Nur einmal gerät er etwas in Rage.) Sein ruhiges, aber penetrantes Bohren nach der Wahrheit fördert Erschreckendes zutage: den immer noch schwelenden Antisemitismus, die Gleichgültigkeit vieler Anwohner, die nüchterne Technokratie, die geheuchelte Anteilnahme und den unverhohlenen Stolz der Täter, den nicht zu lindernden Schmerz der Opfer. Dazu bedarf es keiner Horrorbilder aus den Lagern. Der Ausdruck auf den Gesichtern und die Macht der Sprache genügen. Wenn die Sprache die unaussprechlichen Ereignisse vor dem geistigen Auge der Zuschauer evoziert, wenn Überlebende ihre Muttersprache verweigern, weil sie sie nurmehr als Sprache der Täter empfinden können oder wenn die Menschenverachtung des Nationalsozialismus in der Sprache der Täter, ja unbewusst gar in der mancher Opfer überlebt hat.

Eine simple chronologische Abbildung der Ereignisse liegt Lanzmann fern. Sie greift ihm zu kurz, ebenso wie eine Frage nach dem Warum. Stattdessen fragt Lanzmann unermüdlich nach dem Wie und dem Wann – und macht mit seinen Antworten deutlich, in welchem Ausmaß Bürokratie und Verwaltung am Völkermord an den europäischen Juden beteiligt waren, wie viele Bürger davon gewusst haben (müssen). Einige offene Fragen, die der Film aufwirft, beantwortet das umfangreiche Booklet.

Auch mehr als drei Jahrzehnte nach seiner Entstehung hat Shoah nichts von seiner erdrückenden Wucht verloren. Angesichts erstarkter Populisten, nationalistischer Tendenzen, vielerorts immer noch mangelnder Vergangenheitsbewältigung und einer mancherorts geradezu sorglosen Geschichtsvergessenheit wühlt Lanzmanns nüchterne Bestandsaufnahme dieser Tage umso mehr auf. Shoah ist und bleibt ein dokumentarisches Mahnmal für die Ewigkeit.

Shoah (Blu-ray)

Claude Lanzmanns „Shoah“ feierte im Februar 1986 während der 36. Berlinale seine Deutschlandpremiere. Auch drei Jahrzehnte danach hat dieser monumentale Dokumentarfilm über den Völkermord der Nationalsozialisten an den europäischen Juden nichts von seiner Kraft und Bedeutung verloren. Nun erscheint er erstmals auf Blu-ray.
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