Shirley - Visionen der Realität

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Tableaux vivants – dans le cinéma

Shirley – Visionen der Realität ist ein kinematografisches Experiment, in welchem sich der österreichische Künstler und Filmemacher Gustav Deutsch besonderen architektonischen Herausforderungen zu stellen hatte und sich auf spezielle Erfordernisse der Farbgestaltung, Lichtsetzung, Kameraarbeit und Schauspielführung einlassen musste. Deutsch hat 13 Werke des US-Malers Edward Hopper „zum Leben erweckt“, indem er sie mit seinem Team als Studiokulissen nachgebaut hat. Diese Kulissen hat er wiederum mit einem Soundtrack (mit Geräuschen und, zum Teil, mit Musik) versehen und mit Darstellern aufgenommen. So wurden 13 zweidimensionale (Öl-)Bilder in eine dreidimensionale Wirklichkeit überführt – um dann wieder in 13 zweidimensionale (Kino-)Bilder transformiert zu werden. Das filmische Ergebnis dieses Prozesses ist ein faszinierendes Spiel mit satten Farben, Licht und Schatten, artifiziellen Klängen und Bewegungen – und darüber hinaus eine interessante Chronik der 1930er bis 1960er Jahre.
Das erste (und letzte) Bild des Films entspricht Hoppers Gemälde „Chair Car“ (1965). Eine Frau betritt ein Zugabteil, nimmt auf einem der grünen Sessel Platz und beginnt in einem Emily-Dickinson-Band zu lesen. Eine Rückblende setzt ein – die im weiteren Verlauf präsentierten Tableaus gewähren nun in chronologischer Reihenfolge Einblick ins Leben der Frau. Shirley (Stephanie Cumming) ist Schauspielerin; ihre Geschichte nimmt am 28. August 1931 in einem Hotelzimmer in Paris ihren Anfang. Auch in den Folgejahren (von 1932 bis 1963, mit einigen Auslassungen) ist es stets der 28. August (bzw. noch die Nacht auf den 29.), an dem Shirleys Weg weitererzählt wird.

Während ihre Gedanken als Voice-Over zu hören sind, hält sich Shirley in New York, New Haven, Pacific Palisades sowie auf Cape Cod und in Albany auf, in Wohnungen, Kinos, Büros, Hotellobbys, Zimmern und einmal auch im Freien – mal mit ihrem Partner, dem Fotojournalisten Stephen (verkörpert von Christoph Bach), mal mit anderen Leuten oder ganz allein. In der schwierigen Zeit der Great Depression muss die Group-Theatre-Künstlerin als Platzanweiserin im Lichtspielhaus oder als Sekretärin arbeiten – und begreift ihre Jobs als das Spielen einer Rolle. In der McCarthy-Ära bleibt Shirley (im Gegensatz zu etlichen Kollegen) ihren Idealen treu; später wird sie mit der Krankheit ihres Partners konfrontiert.

Neben den akribischen Rekonstruktionen, die jeweils in mindestens einem Frame exakt mit den Hopper’schen Gemälden übereinstimmen und ansonsten zeigen, was kurz vor und kurz nach dem von Hopper festgehaltenen Moment passiert sein könnte, beeindruckt die Art und Weise, in welcher Deutsch es gelungen ist, sich mit der Shirley-Story von Hopper und dessen Konservativismus abzugrenzen. Die von der kanadischen Tänzerin, Choreografin und Darstellerin Stephanie Cumming gespielte Frau vertritt politisch linke Ansichten; sie ist selbstbewusst-emanzipiert und weiß sich allen Widerständen zum Trotz zu behaupten – womit sie ein klarer Gegenentwurf zu Hoppers Ehefrau Josephine Nivison ist, die ihre eigenen künstlerischen Ambitionen nach der Hochzeit mit Hopper aufgab, um nur noch Muse und Modell ihres Gatten zu sein. Shirley – Visionen der Realität feiert somit einerseits die Virtuosität dieses einflussreichen Malers – und konzipiert andererseits innerhalb der von Hopper erschaffenen Welt ein alternatives Leben. Eine sehr beachtliche Leistung!

Shirley - Visionen der Realität

„Shirley – Visionen der Realität“ ist ein kinematografisches Experiment, in welchem sich der österreichische Künstler und Filmemacher Gustav Deutsch besonderen architektonischen Herausforderungen zu stellen hatte und sich auf spezielle Erfordernisse der Farbgestaltung, Lichtsetzung, Kameraarbeit und Schauspielführung einlassen musste. Deutsch hat 13 Werke des US-Malers Edward Hopper „zum Leben erweckt“, indem er sie mit seinem Team als Studiokulissen nachgebaut hat.
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