Sherlock - Die Braut des Grauens

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

„The stage is set, the curtain rises. We’re ready to begin.“ Mit diesen Worten, zumindest im englischen Original noch um einiges eindrucksvoller, da sie gut und gerne aus dem Prolog eines Dramas von Shakespeare stammen könnten, beginnt das BBC-Special Sherlock — Die Braut des Grauens, das an diesem Osterwochenende (genauer am Ostermontag um 21:45 Uhr auf ARD) zu sehen war und das kurz drauf auf DVD erschien.

In Großbritannien war The Abominable Bride, das gewissermaßen ein (auch so betiteltes) Intermezzo zwischen der dritten und der vierten Staffel darstellt, bereits am Neujahrstag 2016 zu sehen gewesen und hatte dort für überaus gemischte Kritiken gesorgt. Die spannende Frage ist nun, wie das deutsche Publikum auf die reichlich extravagante und sehr selbstbewusste Spielerei reagieren wird, die zudem einen ziemlich kühnen Zeitsprung einbaut: Denn wie auf den ersten Blick zu sehen ist, haben die Macher der BBC-Serie das Geschehen ins Jahr 1895 zurückversetzt.

In ihrem neuen Fall, der gleich Bezug auf mehrere Geschichten Conan Doyles nimmt (Das Musgrave-Ritual stand hier ebenso Pate wie Die fünf Orangenkerne), werden Holmes und Watson (Martin Freeman mit feschem Schnauzbart) von Inspector Lestrade in einer äußerst gruseligen Angelegenheit zu Rate gezogen: Eine offenbar geistesgestörte und ziemlich furchteinflößende Frau namens Emelia Ricoletti hat in einem Anfall von Wahn wahllos auf Passanten geschossen und sich danach das Leben genommen. So weit, so gut, wäre da nicht die unumstößliche Tatsache, dass genau die gleiche Frau einige Stunden später putzmunter ihren Ehemann abpasst und diesen erschießt. Wie ist das möglich? An eine Geistererscheinung oder eine Wiederauferstehung mögen weder Holmes noch Watson glauben, auch wenn alles drauf hindeutet, dass hier übernatürliche Kräfte am Werke sind. Die Serie der Seltsamkeiten ist damit noch lange nicht zu Ende: Plötzlich erhält Holmes handgeschriebene Botschaften („Miss me?“), die intendieren, dass sein toter Erzrivale Moriarty vielleicht doch noch am Leben sein könnte. Und nicht zuletzt erweist sich auch die Frage, warum um alles in der Welt es Holmes und Watson ins viktorianische Zeitalter verschlagen hat, als kniffeliges Rätsel, an dem nicht nur die beiden Detektive, sondern auch der Zuschauer zu beißen hat.

Eine der vielen eingebauten Irritationen (und die grundlegende) ist die bereits erwähnte zeitliche Verortung, denn Die Braut des Grauens spielt nicht wie gewohnt in der Gegenwart, sondern im Jahre 1895 — also genau in jener viktorianischen Epoche, in der Arthur Conan Doyle seine Geschichten ursprünglich angesiedelt hatte. Und genau diese erste Verwunderung zeigt vor allem eines: Wie sehr es den Machern der BBC gelungen ist, ihr Publikum von ihrer Herangehensweise an den Klassiker der Kriminalliteratur zu überzeugen, wenn schon die spielerische Rückverpflanzung in die ursprünglich intendierte Epoche zunächst für ein Stutzen und dann ein Lächeln sorgt. Und erst nach einer Stunde bequemt sich Die Braut des Grauens mit einer Art Erklärung (oder sollte man in diesem Fall sagen: Behauptung) für den Zeitsprung, der so rotzfrech Inception und andere Mindfuck-Filme zitiert, als sei dies eine Selbstverständlichkeit im Fernsehen.

Aber natürlich ist dies nicht der einzige Stolperstein, den Mark Gatiss (der ja in der Serie selbst als Sherlocks Bruder Mycroft zu sehen ist) und Steven Moffat, die beiden Schöpfer der Serie, in das Special eingearbeitet haben. Bereits der Eingangssatz „Die Bühne ist bereitet, der Vorhang öffnet sich.“ verweist auf die Künstlichkeit und die Gemachtheit der gesamten Konstruktion, auf der das gesamte Konzept von Sherlock fußt, hinzu kommt die komplizierte Denkfigur eines stellvertretenden Chronisten (James Watson), der als Augenzeuge und Erzähler für die vermeintliche Authentizität der Fallbeschreibungen sorgt. Und genau an dieser Stelle setzt das Special gleich mehrmals schillernde Akzente, wenn sowohl Holmes‘ Vermieterin Mrs. Hudson als auch ein Zimmermädchen sich bei Watson als Alter ego des Erzählers darüber beklagen, dass sie in dessen Geschichten „zu wenig Text“ hätten und stets nur auf ihre reine Funktion im Rahmen der Geschichte reduziert wären. Erst später wird sich zeigen, dass diese Einschübe nicht nur ein Spiel mit narrativen Konventionen sind, sondern zugleich eine Andeutung der schlussendlichen Lösung darstellen, wer hinter dem Geheimnis um Emelia Ricoletti steckt: Hier revoltieren nicht nur (weibliche) Figuren gegen ihren Schöpfer und ihre Rolle als schmückendes Beiwerk. Viel eher spiegelt sich darin der Kampf der Suffragetten um gesellschaftliche Anerkennung und Teilhabe wider.

Die Braut des Grauens hat mit der eigentlichen Serie um Holmes und Watson ungefähr so viel zu tun wie die beiden HR-Tatorte Im Schmerz geboren und Wer bin ich? mit dem Rest der sonntäglichen Krimireihe. Wobei damit freilich nicht gesagt sein soll, dass ein ganz normaler Tatort und eine Folge aus Sherlock qualitativ in einer Liga spielen würden — es geht vor allem darum, den Abstand zu verdeutlichen und damit auch das Risiko, das die Macher dieses Specials (und auch die für Felix Murot zuständige HR-Reaktion) eingehen. Es wäre sicher in beiden Fällen einfacher gewesen, die Erwartungen des Publikums stärker zu berücksichtigen, so aber wird dem angeblich ach so denkfaulen Publikum etwas zugemutet (im positiven Sinne) — und das ist im deutschen Fernsehen schon eine ziemliche Seltenheit geworden.

Die Programmierung der ARD für die Erstausstrahlung des Specials auf den Ostermontag erweist sich dabei als Glücksgriff, denn eines der vielen Themen und Motive, die Die Braut des Grauens verhandelt, ist die Wiederauferstehung, die hier gleich anhand verschiedener Figuren durchgespielt wird: Der eigentliche Fall der Emelia Ricoletti ist ebenso ein Mysterium, bei dem eine Tote (scheinbar) wieder zum Leben erwacht, wie auch das Auftauchen von James Moriarty, den Holmes eigentlich in der Folge Der Reichenbach-Fall (das Ende der 2. Staffel) zum Abschluss (also zum Tode) gebracht zu haben schien.

Man kann durchaus Missfallen finden an dem Manierismus und dem unverhohlen zur Schau gestellten unermesslichen Selbstbewusstsein, das die BBC und die Macher der internationalen Erfolgsserie hier offenbaren. Andererseits kommt man nicht umhin, den Mut und die Kühnheit der zahlreichen erzählerischen Seiten- und Irrwege sowie waghalsigen Sprünge und frechen Abkürzungen zu bewundern, die Die Braut des Grauens hier beschreitet. Sucht man in der vielfach hochgelobten internationalen Fernsehlandschaft (zumal in der weniger gelobten deutschen) Vergleichbares, wird man dies kaum finden.

„Elementary, my dear Watson“, so glaubt jedermann zu wissen, soll Sherlock Holmes zu seinem Adlatus einmal gesagt haben; es ist eine jener Wendungen, die als bezeichnend angesehen wird für das Schüler-Lehrer-Verhältnis der beiden. Abgesehen davon, dass genau diese zum geflügelten Wort gewordene Phrase in keiner einzigen der 56 Geschichten um Sherlock Holmes jemals in dieser Form getätigt wurde (womit sie sich auf einer ähnliche Ebene der gefühlten Wahrheit bewegt wie „Harry, hol schon mal den Wagen“, „Beam me up, Scotty“ und „Luke, I am your father“): Sollte jemals jemand auf die Idee kommen, eine neue Wendung zu erfinden, die das Binnenverhältnis der beiden Hauptcharaktere beschreibt, so müsste diese nach Die Braut des Grauens wohl lauten: „Meta, my dear Watson!“
 

Sherlock - Die Braut des Grauens

„The stage is set, the curtain rises. We’re ready to begin!“ Mit diesen Worten, zumindest im englischen Original noch um einiges eindrucksvoller, da sie gut und gerne aus dem Prolog eines Dramas von Shakespeare stammen könnten, beginnt das BBC-Special Sherlock — Die Braut des Grauens, das an diesem Osterwochenende (genauer am Ostermontag um 21:45 Uhr auf ARD) zu sehen sein wird.

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