Seht mich verschwinden

Eine Filmkritik von Falk Straub

Die anorektische Gesellschaft

Während der Mailänder Modewochen 2007 provoziert Starfotograf Oliviero Toscani mit einem Plakat, das ein nacktes, 32 Kilogramm leichtes Model zeigt. Die Kampagne, die sich offiziell gegen Essstörungen richtet, macht die porträtierte Isabelle Caro schlagartig berühmt. Drei Jahre später ist sie tot. Doch wer steckt hinter diesem zerbrechlichen Wesen? Kiki Allgeiers Seht mich verschwinden begibt sich auf Spurensuche.
Der Medienrummel ist enorm. In einer Montage flimmern Nachrichtenschnipsel über die Leinwand, die nach Toscanis Schockfoto weltweit über die Sendestationen gingen. Als Isabelle Caro ein Jahr später ihre Autobiografie veröffentlicht, wird sie von Talkshow zu Talkshow gereicht. Dort sitzt sie mit Stars wie der Sängerin Jessica Simpson, warnt vor den Gefahren der Anorexie – und findet Gefallen an der Aufmerksamkeit. Sie schreibt einen Webblog, wird Jurorin einer Casting-Show und bekommt eine kleine Filmrolle in Luc Bessons Adèle und das Geheimnis des Pharaos. Es scheint, als wende sich ihr trauriges Leben endlich in eine positive Richtung.

Isabelle Caros Lebensgeschichte klingt wie ein böses Märchen – zumindest, wenn der Zuhörer es aus ihrem Mund vernimmt. In Isabelles Kindheit verbietet ihr die depressive Mutter Anne-Marie, das Haus zu verlassen. Der Umgang mit Gleichaltrigen ist tabu. Isabelle erhält bis zu ihrem elften Lebensjahr Fernunterricht. Das Geigenspiel erlernt sie nur, um die Familie als Straßenmusikerin finanziell zu unterstützen. Mit 13 Jahren erkrankt sie an Magersucht. Der Vater, Christian Caro, ist beruflich viel unterwegs, unternimmt nichts dagegen. In Isabelles Vorstellung ist ihr leiblicher Vater eh ein anderer. Sie glaubt, das uneheliche Kind des Schlagermusikers Danyel Gérard zu sein, für den Christian Caro gearbeitet hat. Isabelle ist nach einem seiner Lieder benannt: „Melody“. Mit Anfang zwanzig ändert sie ihren Vornamen in Isabelle und unterzieht sich einigen Schönheitsoperationen: Nase, Lippen, Kinn. Auf ihre Wangen lässt sie sich Sommersprossen tätowieren. Von all dem verspricht sie sich mehr Selbstvertrauen. Nach dem Medienrummel scheint sie es gefunden zu haben. Wie sie jede Sekunde genieße, in das Leben beiße und es verschlinge, spricht Isabelle in die Kamera ihres Videotagebuchs. Das Tagebuch war an die Regisseurin Kiki Allgeier adressiert, die Isabelle bereits vor ihrem Tod für eine Kurzdoku begleitet hat. Allgeier beschließt, aus dem Material einen langen Dokumentarfilm zu machen und lässt weitere Beteiligte zu Wort kommen.

Aus Christian Caros Mund hört sich alles ganz anders an. Gefasst sitzt der großgewachsene Mann mit den langen weißen Haaren vor Kiki Allgeiers Kamera und erzählt seine Version des Familienlebens. Harmonisch sei es gewesen, das Musizieren habe Isabelle Spaß gemacht. Später hat das Mädchen sogar eine CD aufgenommen. Von der Essstörung seiner Tochter habe er erst erfahren, als Isabelle mit 20 Jahren wegen ihres Untergewichts ins Krankenhaus kam. Danach sei alles aus dem Ruder gelaufen. Seine Frau habe das nicht verwunden. Isabelles Vater sagt das mit sanfter Stimme und ruhigem Blick. Der Zuschauer glaubt ihm mehr als seiner labilen Tochter.

Doch welche Version stimmt? Das weder Isabelle noch Christian die ganze Wahrheit sagen, ist ihnen anzumerken. Mit der reinen Gegenüberstellung der beiden Positionen macht es sich der Dokumentarfilm jedoch viel zu einfach. Die Regisseurin vernachlässigt es sträflich, in den entscheidenden Situationen kritisch nachzuhaken, ihren Gesprächspartnern energisch auf den Zahn zu fühlen. In ihrem Versuch, den Menschen hinter dem Medienphänomen Isabelle Caro zu zeigen, verliert Allgeier die nötige Distanz. Schlimmer noch: Durch die Wahl ihrer formalen Mittel – von den ästhetisierenden, völlig unnötigen Schwarzweißaufnahmen über die dramatisierende Musik bis zum teils prätentiösen, selbstverliebten Kommentar – rückt die Filmemacherin Caro in die Nähe einer Heiligen, die in ihrem Kampf gegen die Magersucht tragisch scheiterte.

Dabei drängen sich gewisse Frage geradezu auf: Warum begibt sich Isabelle lieber auf Werbetour anstatt in Behandlung? Kann sich Isabelle in der Öffentlichkeit glaubwürdig gegen Anorexie wenden, wenn sie selbst nicht gegen ihre Erkrankung ankommt, ja, überhaupt nicht ankommen will? Und wem ist mit diesem Kampf letztlich geholfen, außer Isabelles eigenem Ego? Doch Seht mich verschwinden stellt keine dieser Fragen und muss sich stattdessen selbst unangenehme gefallen lassen. In erster Linie die Frage, was dieser Film eigentlich bezwecken will.

Geht es nach Allgeier, soll Seht mich verschwinden eine Diskussion über unsere anorektische Gesellschaft auslösen und Mechanismen wie den Medienrummel als Teil des Problems entlarven. Doch Allgeier macht es sich zu einfach. Ein wenig Kritik an der Modebranche hier, ein bisschen Medienschelte dort, ohne die Kritisierten ausreichend zu Wort kommen zu lassen, ist zu wenig. Seht mich verschwinden tappt in dieselbe Falle. Auch wenn es die Regisseurin nicht will, schlachtet sie Isabelles Schicksal aus. Durch ihren distanzlosen, viel zu unkritischen Blick läuft die Dokumentation zudem Gefahr, das falsche Publikum zu adressieren. Seht mich verschwinden präsentiert jungen Menschen mit Essstörungen ein gefährliches Vorbild: Eine Frau, die nicht wegen ihres Kampfes gegen die Magersucht berühmt wurde, sondern weil sie so wenig wog. Nun kann der Film freilich nichts für sein Publikum und dessen Sicht der Dinge, für die Wahl seiner Mittel, die diese Sicht begünstigen, hingegen schon.

Seht mich verschwinden

Während der Mailänder Modewochen 2007 provoziert Starfotograf Oliviero Toscani mit einem Plakat, das ein nacktes, 32 Kilogramm leichtes Model zeigt. Die Kampagne, die sich offiziell gegen Essstörungen richtet, macht die porträtierte Isabelle Caro schlagartig berühmt. Drei Jahre später ist sie tot. Doch wer steckt hinter diesem zerbrechlichen Wesen? Kiki Allgeiers „Seht mich verschwinden“ begibt sich auf Spurensuche.
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