Schrei, wenn du kannst

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Unter schlechtem Einfluss

Aus der französischen Provinz trifft der brave Charles (Gérard Blain) in Paris ein, um dort Jura zu studieren. Unterkunft findet er bei seinem Vetter Paul (Jean-Claude Brialy), der das komfortable, mit einer Waffensammlung und einigen Kunstwerken ausgestattete Appartement eines Onkels bewohnt und ein mondänes Studentenleben mit trinkseligen Partys führt. Im Dunstkreis von Paul und dessen durchtriebenem, stets bei ihm herumlungerndem Freund Claudius (Claude Cerval) betritt der zurückhaltende Charles eine bohemienhafte Szenerie der leichtgängigen Vergnügungen und Beziehungen, die ihn eher verstört als begeistert und letztlich komplett aus der Fassung bringt.
Schrei, wenn du kannst aus dem Jahre 1959, dessen deutscher Titel im Gegensatz zum treffenden französischen Original Les cousins wenig passend erscheint, ist nach Die Enttäuschten / Le beau Serge der zweite Spielfilm von Claude Chabrol, und beide Schwarzweiß-Dramen mit Gérard Blain und Jean-Claude Brialy in den Hauptrollen beschäftigen sich mit der komplexen Beziehung zweier markant unterschiedlicher Männer, die sich zu einer Art psychologischem Duell als Spiegelung bestimmter gesellschaftlicher Befindlichkeiten auswächst. Als einer der maßgeblichen Auteurs der Nouvelle Vague hat Claude Chabrol, der auch aufgrund des kommerziellen Erfolgs von Schrei, wenn du kannst seine eigene Produktionsfirma AJYM gründen konnte, die Charakterzüge der Helden seiner ersten beiden rasch aufeinander folgenden Filme recht ähnlich angelegt, wobei im ersten Gérard Blain den Part des wilden Wesens übernimmt, während Jean-Claude Brialy hier den sensiblen, sanften Typen spielt, was sich bei den Cousins umkehrt: In Schrei, wenn du kannst präsentiert sich der beinahe diabolisch wirkende Paul als arroganter, selbstherrlicher und zynischer Egozentriker, während sein Vetter Charles sich selbst als verwöhntes Muttersöhnchen beschreibt und innerhalb der studentischen Bohème nur aufgrund seiner Verwandtschaft mit Paul, der ihn allerorts bereits angekündigt hat, nachsichtig akzeptiert wird. Ereignet sich die Geschichte von Die Enttäuschten in einer kargen ländlichen Region, ist Schrei, wenn du kannst direkt in Paris verortet, und es ist eine heiter-melancholische urbane Kälte, die sich prägnant in den Protagonisten niederschlägt.

Charles ist anders und behauptet seine moralisch integer erscheinende Persönlichkeit durch kleine Gesten, die vor allem in Abwendung oder Rückzug bestehen, wenn Paul und Claudius ihre selbstgefälligen Eitelkeiten wetzen – etwa bei der schönen Geneviève (Geneviève Cluny), die von Paul schwanger ist und nonchalant auf einen Abbruch geimpft wird. In einem älteren Buchhändler (Guy Decomble) findet Charles einen väterlichen Freund, der ihm einen Balzac schenkt und mit wohlwollenden Ratschlägen zur Seite steht, doch reicht diese sporadische Beziehung letztlich nicht aus, um Charles’ wankendes Selbstvertrauen zu stabilisieren. In liebevollen Briefen an seine Mutter zeichnet Charles ein verklärtes Bild von seinem Aufenthalt in Paris, der ihn zunehmend in eine existenzielle Krise katapultiert, als er sich in die aparte Florence (Juliette Mayniel) verliebt, die dem scheuen Außenseiter durchaus zugewandt ist. Doch mit Unterstützung von Claudius versteht es nun Paul geschickt, Florence für sich zu erobern und Charles auf herablassende Weise seine Überlegenheit spüren zu lassen. Als Paul, der sich kaum mit seinem Studium beschäftigt, ein Examen besteht, bei dem der gut vorbereitete Charles durchfällt, braut sich eine explosive Verzweiflung im Luxusappartement mit der Waffensammlung zusammen …

Es ist nicht zuletzt der gleichermaßen brillant inszenierte wie verstörende Schluss, der den Gewinner des Goldenen Bären der Internationalen Filmfestspiele von Berlin des Jahres 1959 zu einem außergewöhnlich intensiven Film werden lässt, dessen ambivalente und beunruhigende Botschaften sich zuvorderst durch die visuelle Präzision der Kamera von Henri Decaë zu mächtigen Metaphern verdichten. Der liebe, gute und sensible Charles, ein anspruchsvoller Leser und Grübler, kämpft mit den harten Realitäten und Rivalitäten der Metropole Paris, während der selbstsichere, kaltblütige und hämische Paul anscheinend mühelos mit ihnen spielt – und gewinnt, zumindest was die sichtbaren Triumphe angeht. Neben den ausführlich gezeichneten, extrem unterschiedlichen Charakteren der beiden jungen Männer sind es vor allem kleine Zufalls- oder Schicksalshaftigkeiten, die der Geschichte ihre Wendungen verleihen und stets den Eindruck erwecken, auch alternative Entwicklungen verfolgt haben zu können, was die innere Beteiligung des Zuschauers kräftig ankurbelt. Auch wenn Die Enttäuschten als frisches, atmosphärisch kargeres wie dichteres Drama mit seinem derben Debüt-Charme deutlich puristischer gestaltet ist, stellt Schrei, wenn du kannst als ungleich erfolgreicherer zweiter Film Claude Chabrols ein wahrhaft wertvolles und bewegendes Glanzstück im Werk des französischen Filmemachers und innerhalb der Nouvelle Vague dar, das auch ein breites Publikum berührt hat.

Schrei, wenn du kannst

Aus der französischen Provinz trifft der brave Charles (Gérard Blain) in Paris ein, um dort Jura zu studieren. Unterkunft findet er bei seinem Vetter Paul (Jean-Claude Brialy), der das komfortable, mit einer Waffensammlung und einigen Kunstwerken ausgestattete Appartement eines Onkels bewohnt und ein mondänes Studentenleben mit trinkseligen Partys führt.
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