Salon Kitty (1976)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Zwischen schamlosem Genrekino und künstlerischer Ambition

Man muss sich die 1960er und 70er Jahre als so etwas wie die goldenen Zeiten des italienischen Kinos vorstellen: Federico Fellini, Pier Paolo Pasolini, Lina Wertmuller, Marco Ferreri, Liliana Cavani, Bernardo Bertolucci – die Liste der herausragenden Filmemacher in jener Epoche ist schier endlos. Und es ist nicht allein die reine Quantität, die beeindruckt, sondern auch die Qualität und die Vielfältigkeit der Filme, die in dieser Zeit den Weg über die Alpen und auf die Festivals der Welt schafften. Zwischen reinem Kunstkino und herrlichen Genreproduktionen gab es kaum eine Facette, kaum eine Stilrichtung und inhaltliche Abstrusität, die das italienische Kino in jenen Tagen ausließ.

Was ebenfalls aus der heutigen Perspektive auffällt, ist der Mut, mit der sich Filmemacher völlig unterschiedlicher Prägung und Zielsetzung einem Thema wie etwa dem Faschismus und Nationalsozialismus annäherten. Und so entstanden innerhalb eines Jahrzehnts grenzüberschreitende Werke wie Pasolinis Salò oder die 120 Tage von Sodom, Cavanis Der Nachtportier oder Wertmullers danach in Vergessenheit geratener Pasqualino Settebellezze, die provokant und am Rande des Exploitationkinos angesiedelt grelle Schlaglichter auf die dunkelste Epoche des 20. Jahrhunderts in Europa warfen.

Mindestens ebenso berüchtigt wie die genannten Filme war auch Tinto Brass‘ Salon Kitty, der bei seinem Erscheinen einen handfesten Skandal um Zensur in Italien auslöste, in dessen Verlauf sich beispielsweise Luchino Visconti auf die Seite des vermeintlichen Schmuddelkindes schlug. Nun ist der Skandalfilm, der einzig von Brass‘ drei Jahre später realisiertem Caligula übertroffen wurde, erstmals in einer deutschen Fassung als DVD und Blu-ray erhältlich – allerdings trotz nicht erfolgter Jugendfreigabe nicht in der Originalversion, sondern um rund 20 Minuten gekürzt, was der deutschen Kinofassung des Jahres 1976 entspricht.

Berlin 1939, der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges steht unmittelbar bevor und damit laufen auch an der Heimatfront die Vorbereitungen auf Hochtouren. Einen ganz besonderen Plan verfolgt der SS-Offizier Wallenberg (Helmut Berger) zur Sicherung des Endsiegs. Um ausländische Diplomaten, aber auch ranghohe eigene Militärs und die berichterstattende Presse besser unter Kontrolle zu haben, nutzt der stramme Nazi ein Bordell im gutbetuchten Bezirk Charlottenburg, um kriegswichtige Geheimnisse aus den Politikern anderer Ländern herauszukitzeln. Zu diesem Zwecke werden nicht professionelle Liebesdienerinnen, sondern glühende Nationalsozialistinnen rekrutiert, doch selbst dieser Kniff kann nicht verhindern, dass einer der Damen ausgerechnet die Liebe dazwischenkommt. Und damit nimmt das Verhängnis seinen Lauf, denn in einer Einrichtung wie dem Salon Kitty und in einem Regime wie dem nationalsozialistischen ist für Gefühle kein Platz…

Die Geschichte, die der Film erzählt, ist zwar in ihrer Opulenz und dem Abfeiern nackter Tatsachen purer Pulp, doch nicht so ganz aus der Luft gegriffen, wie man glauben möchte: Das Etablissement in Berlin-Charlottenburg existierte tatsächlich seit den frühen 1930er Jahren, ob es aber tatsächlich eine „Zweckentfremdung“ des Bordells als „staatlich geförderte Liebesfalle“ gab, ist bis zum heutigen Tage nicht zweifelsfrei bewiesen und stützt sich vor allem auf das halbdokumentarische Buch Salon Kitty von Peter Norden aus dem Jahre 1974. Wobei der historische Wahrheitsgehalt vermutlich eher nicht zu den Aspekten gehört haben dürfte, auf die Tinto Brass besonders großen Wert gelegt hat – und wenn, dann dürfte sein Streben vor allem daran ausgerichtet gewesen sein, mit dem Anruch realer Perversionen und Schweinereien den Kitzel des Vergnügens noch weiter zu erhöhen.

Den Film aber allein auf seine reichlich vorhandenen spekulativen und exploitativen Momente zu beschränken, ist zu eng gefasst: Mit einem Setdesigner wie dem Bond-Ausstatter Ken Adam und einer Darsteller-Riege wie Helmut Berger und Ingrid Thulin bewegt sich Salon Kitty auch heute noch an der schmalen Grenze zwischen schamlosem Genrekino und künstlerischer Ambition, ohne jemals vollends in die eine oder andere Richtung abzugleiten.

Und so ist Salon Kitty auch heute noch ein Zeitdokument – und zugleich vie mehr als das. Nun, da das europäische Genrekino vergangener Tage mit Hilfe einiger Enthusiasten ohne Scheuklappendenken wieder aus den Giftschränken der Filmgeschichte ans Tageslicht geholt wird, passt diese Veröffentlichung exzellent in den erfreulichen Trend. Noch schöner wäre es nur noch, wenn es eben doch der Director’s Cut gewesen wäre und nicht die verstümmelte Kinofassung. So viel Sorgfalt hätte der Film doch verdient gehabt.
 

Salon Kitty (1976)

Man muss sich die 1960er und 70er Jahre als so etwas wie die goldenen Zeiten des italienischen Kinos vorstellen: Federico Fellini, Pier Paolo Pasolini, Lina Wertmuller, Marco Ferreri, Liliana Cavani, Bernardo Bertolucci – die Liste der herausragenden Filmemacher in jener Epoche ist schier endlos. Und es ist nicht allein die reine Quantität, die beeindruckt, sondern auch die Qualität und die Vielfältigkeit der Filme, die in dieser Zeit den Weg über die Alpen und auf die Festivals der Welt schafften.

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