Log Line

Arnaud Desplechin gleitet mit seiner Kamera durch die Straßen von Roubaix, der ärmsten Stadt Frankreichs, und sucht zusammen mit seiner Hauptfigur, Captain Daoud nach zwei Mörderinnen. Doch wofür wird sich Desplechin entscheiden? Stil oder Story?

Oh Mercy! (2019)

Eine Filmkritik von Beatrice Behn

CSI: Noir

Nachts zieht er durch die Straßen wie ein Geist, die Augen stets wachsam auf die dunklen Ecken, die Hauseingänge und das Leben hier in Roubaix, der ärmsten Stadt Frankreichs, gerichtet. Es ist seine Stadt. Hier ist er aufgewachsen, hier ist er der Chef: Captain Daoud (Roschdy Zem), Polizeichef, Schlafwandler, Gerechtigkeitssucher und Helfer in der Not — all das vereint der Mann, der in Arnaud Desplechins „Oh Mercy!“ der Einzige scheint, der den titelgebenden Hilferuf erhöht.

Ihm wird nun ein neuer Rekrut, Louis (Antoine Reinartz), unterstellt, der sofort auf die Probe gestellt wird, denn das Pflaster in Roubaix ist heiß, die Nächte lang und die Fälle stapeln sich. Desplechin erlaubt sich eine lange Zeit die Einführung der Stadt mit ihren nassen Straßen, dunklen Gassen und verkommenen Einwohnern, die vergessen, verrotten, verrohen und nur Daoud und seine Kollegen sind noch da als Bollwerk gegen den totalen Sittenverfall. Desplechins Captain ist eine Figur der ganz alten Schule. Er ist ein hard boiled detective, nur ohne Hut, den trägt man nicht mehr in den 2010er Jahren. Ansonsten kommt er allerdings sehr klassisch daher. Die Melancholie, der Schlafmangel, tausende Zigaretten und eine jazzig-elegische Musik begleiten ihn, wenn er seine Fälle, mal mit Herz und mal mit Härte zu lösen sucht. 

Und so gleiten wir gemeinsam durch die Nacht mit ihm und Louis und irgendwie erfasst einen dieses Melancholische, denn auch Desplechins Kamera gleitet ganz sanft die Straßen auf und ab. Man könnte eine Weile so verbringen, doch dann macht der Film etwas, das ihn letztendlich zerstören wird in all seiner ästhetischen Agonie. Es geschieht ein Mord. Eine alte Frau wird getötet, ihre Wohnung ausgeräumt. Den Mord gemeldet hat Claude (Léa Seydoux), die mit ihrer Marie (Sara Forestier), ihrem Sohn und ein paar Hunden in der Nähe wohnt. Man kennt sie schon auf der Wache. Erst vor Kurzem war sie Zeugin eines Brandes im Nachbarhaus, bei dem ihre Aussagen allerdings nur wenig hilfreich waren. Schon bald verstrickt sie sich auch in dem neuen Fall in eigenartige Aussagen und wird so zusammen mit Marie schnell zur Tatverdächtigen.

Ab da beginnt ein ewig langes Spiel aus Verhör und Gegenverhör, aus Schreien, Drohen, Helfen und allen anderen Tricks und Kniffen, die die Polizei anzuwenden weiß. Good cop, bad cop eben, doch Desplechin inszeniert diesen Teil so anders, so karg und eckig und vor allem viel zu lang, dass sein Noir zerfällt und in etwas endet, dass man nur als Fernsehformat à la CSI verstehen kann. Der Fall ist tief und noch dazu verwunderlich, hätte diese Geschichte nicht auch wunderbar in seinen düster-atmosphärischen Film eingegliedert werden können. Da hilft auch das Bond-Girl Léa Seydoux nicht weiter, sie kann aus der fast gar nicht etablierten Figur wenig herausholen, so beschränkt sind ihre Möglichkeiten in ihrer defensiven Rolle. 

Oh Mercy! möchte man hier auch rufen. Habt Gnade mit dem Publikum. Doch es ist zu spät. Das Tempo, die Atmosphäre, ja alles ist dahin, es zerfließt und zerschießt sich mit jeder Minute, in der Desplechin nicht ablassen kann von der ewigen Interrogation, die zwar Polizeitechniken en détail zeigt, die Figuren dabei aber völlig vergisst. So wie auch Louis, der, eben noch groß eingeführt und sogar im Off-Ton übers Leben kontemplierend völlig fallen gelassen wird. Einzig Roschdy Zems Captain Daoud vermag dem Desplechinschen Massaker halbwegs zu entkommen, zu charismatisch ist diese Figur, als dass sie dem Gemetzel erliegt. 

Da hilft auch nicht, dass der Fall auf wahrer Begebenheit beruht. Schlimmer wird es allerdings, wenn man bedenkt, dass der Film auf einer Dokumentation des Falles, der in Frankreich für extremen Wirbel sorgte, basiert und so dermaßen viele Ansätze für wirklich großes Kino mit sich bringt, dass es ein Graus ist, dass Oh Mercy! so in die Hose geht. Und doch, es zeigt, zumindest im Ansatz, was für ein stimmungsvoller Filmemacher Arnaud Desplechin sein kann, auch wenn er sein Potential und dass des Filmes auf der Hälfte in die Tonne kloppt.

Oh Mercy! (2019)

Ein Polizeichef aus dem Norden Frankreichs macht sich allein an die Lösung eines Falles, bei dem eine alte Frau brutal ermordet wurde.

 

  • Trailer
  • Bilder

Meinungen