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Viele junge Menschen sind mit der kapitalistischen Gesellschaftsform unzufrieden, vermissen den tieferen Sinn im Alltag oder auch nur gute Freunde. Die Protagonisten dieses Spielfilms steigen aus, um einen Neuanfang in der Natur zu wagen. Ihr Abenteuer schlägt einen unerwartet prekären Kurs ein.

Raus (2018)

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Zurück zur Natur, ruft der Erlöser

Glocke (Matti Schmidt-Schaller) will weg. Er hat keinen Bock mehr auf diese kapitalistische, ungerechte Gesellschaft, in der es keine Solidarität, zu wenig Umweltbewusstsein und für ihn persönlich keinen Sex gibt. Um bei einer Frau zu landen, hat er das Auto eines Zuhälters angezündet. Seine filmreife Flucht macht ihn kurzzeitig zum Internetstar, aber die Liebe erweist sich als Illusion. Glocke packt einen Rucksack und folgt dem Internet-Aufruf eines Aussteigers namens Friedrich, der eine Lebensgemeinschaft in der Natur gründen will.

Das Spielfilmdebüt des Regisseurs Philipp Hirsch, der mit Thomas Böltken auch das Drehbuch verfasste, schickt fünf junge Menschen, die sich gar nicht oder nur aus dem Internet kennen, auf einen abenteuerlichen Trip hinaus in die Natur. Friedrich wohnt in einer abgelegenen Hütte irgendwo in den Bergen. Er hat für die Leute, die zu ihm kommen wollen, unterwegs Tafeln mit Rätseln ausgelegt, in denen sich Hinweise verstecken. Glocke versteht sich recht gut mit Paule (Enno Trebs) und fühlt sich sofort zu Judith (Milena Tscharntke) hingezogen, die für radikale Ideen wie einer Weigerung aller Haushalte, die Miete zu zahlen, schwärmt. Steffi (Matilda Merkel) wagt gerade den Absprung aus dem Neonazi-Milieu, aus dem sie noch ein blaues Auge mitbringt.

Viel verraten die Wanderer aber nicht von ihrer Vergangenheit, denn die Regeln verlangen, dass sie nur nach vorne schauen sollen. Der pedantische, bestens vorbereitete und ausgestattete Elias (Tom Gronau) droht zum Außenseiter der Gruppe zu werden. Er will den anderen Vorschriften machen und das Tempo bestimmen, aber die Nächte am Lagerfeuer, das Laufen durch den Wald, das Baden in einsamen Seen setzt bei den meisten Glücksgefühle frei und den Wunsch, sich Zeit zu lassen. Glocke gelingt es nach einigem Üben, einen Fisch mit einem Speer zu fangen, und Steffi hat von ihrer Großmutter viel über Wildkräuter, Pilze, essbare Wurzeln und Knollen gelernt.

Als Survival-Abenteuer junger Charaktere erinnert die Geschichte zeitweise an den französischen Erfolgsfilm Liebe auf den ersten Schlag. Zwar fehlt der Humor, aber die Kamera gibt sich umso intensiver Mühe, mit Nahaufnahmen von Gesichtern, mit schrägen und schwankenden Bildebenen die Atmosphäre impressionistisch auszukosten. Diese visuelle Gestaltung prägt die Wahrnehmung des Raums und der Handlung ungewöhnlich stark und ähnelt im Stil subjektiven Schnappschüssen für soziale Medien. Popgesang und Instrumentalmusik zelebrieren das Lebensgefühl, die sinnliche Freiheit des Moments, der auch Aufnahmen der Nacktbadenden huldigen.

Doch Hirsch bezieht seine Inspiration auch noch aus ganz anderen Richtungen. Die Fünf werden, so sie es nicht schon vorher waren, unterwegs zu Outlaws. Ein aggressiver, frauenfeindlicher Biker, ein dummer Gastwirt lassen ihnen kaum eine andere Wahl. So soll wohl der Eindruck entstehen, dass es für die Wanderer kein Zurück gibt. Außerdem setzt die Wildnis in den Leuten allmählich Kräfte frei, vor denen schon William Goldings Roman Herr der Fliegen warnte. Mit dem in ihrer Erwartung zur Messiasfigur überhöhten Friedrich gibt es ein Problem und die vom Wohlstand verwöhnten, kindlichen Charaktere können auf einmal sehr zornig werden.

Und hier bekommt der Film selbst ein ordentliches Problem, denn die Gewalt entlädt sich mit faschistoider Wucht und soll der Gemeinschaft dann doch nichts anhaben können. Die nur dürftig skizzierten Charaktere werden unglaubwürdig und das Drama offenbart sich zunehmend als unbekümmert mäanderndes Gedankenspiel ohne ausreichende innere Verankerung. In Anbetracht der spannenden Ausgangsidee und der reizvollen Intensität, die der Trip punktuell entwickelt, ist es schade, dass der Film die Sympathie des Publikums leichtfertig aufs Spiel setzt.

Raus (2018)

Glocke ist Aktivist, weil er fest davon überzeugt ist, dass die Falschen am Drücker sind. Doch als er eine Luxuskarosse anzündet, wird er ertappt. Zwar kann er fliehen, doch ein Bild geistert durch alle Medien. Er schließt sich einer Gruppe von Fremden an, die dem Ruf eines Unbekannten folgen, der die Rückbesinnung auf die Natur predigt. Und tatsächlich scheint sich zunächst alles zum Guten zu wenden … 

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Meinungen

Elsie · 30.06.2021

Die Gewaltszenen erinnern an einen Horrorfilm und sind oft zutiefst abstoßend.
Das einzig gute daran ist, dass die ARD endlich einmal zeigt, wozu linke Weltverbesserer und Umweltfanatiker fähig sind.
(Nachdem dieses Thema jahrzehntelang diskret ignoriert wurde)

jogi · 20.12.2020

Es zeigt sich eben, dass Gewalt und Emotionen eng zusammen hängen - mit und ohne Privateigentum. Die DDR hats bewiesen.

Angie · 01.12.2020

ich fand es auch etwas merkwürdig, dass digital natives den Plottwist nicht in Betracht ziehen und auch nicht in der Lage sind, sich einzugestehen, dass sie für ihre eigenen Entscheidungen verantwortlich sind. An der Stelle hätte man noch etwas feilen können, um die Glaubwürdigkeit zu erhalten.

Leo · 29.11.2020

.....wenn es neue Menschen braucht auf Erden, müssen wir selbst diese Menschen werden....

Katrin · 23.01.2019

Den Film empfinde ich als wohltuend anders! Die Sehnsucht der Jugendlichen nach einer auf Wertschätzung und gleichberechtigtem Miteinander beruhenden Gesellschaft wird sehr feinfühlig eingefangen, ebenso wie deren normale Alltagsprobleme. Unbedingt sehenswerter Film, gleichzeitig tiefgründig und auch erfrischend.

Barbara Ritter · 27.12.2018

Tolle Story, großartige Bilder!