Poll

Eine Filmkritik von Lida Bach

Leuchtende Feste über der Trauer

„Noch lebt sie in Finsternissen / Mit verdorrtem, taubem Mund, / Fiebernd, wie nach Otterbissen, / Glüht das Auge hell und wund.“ Ihre eigenen Worte beschreiben am eindringlichsten das in Trauer gekleidete junge Mädchen, fast noch ein Kind (Paula Beer), welches im Jahre 1914 kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges nach Estland kommt. Poll nannte der deutsche Regisseur und Drehbuchautor Chris Kraus seine bildgewaltige Biografie Oda von Sierings, welche als Oda Schäfer eine der bedeutendsten Literatinnen ihrer Epoche werden werden sollte.
Oda Schäfer ist eine große Unbekannte der Weltliteratur. Der Film über jene Tage zwischen Kidnheit und Erwachsenwerden gleicht in seinem rauen Zauber Odas Seelenlandschaft. Zu ihrem Mitmenschen, der reservierten Stiefmutter Milla (Jeanette Hain), ihrem plumpen Cousin Paul und den russischen Soldaten, die in der Seevilla Lager bezogen haben, ist sie spröde und abweisend. Innerlich aber brennt sie vor Begierde sich auszudrücken, Verzweiflung und Wut in Worte zu kleiden. Sie schreie, notiert sie, schreie stumm in ihr Tagebuch. Ein blasses Gespenst scheint das von der vierzehnjährigen Paula Beer in einem brillanten schauspielerischen Debüt verkörperte Mädchen. Eine traurige Revenantin ihrer toten Mutter, welche im Sarg in die Heimaterde zurückkehrt. Angefüllt mit Eis ist er wie das Herz Odas, die nicht anders kann als immerfort über den Tod zu sinnieren, der sich in Poll eingenistet hat.

Doppelköpfig überreicht sie ihn ihrem Vater in Gestalt eines konservierten Siamesischen Zwillings. Das Präparat ist für den gefühlskalten Mediziner Ebbo von Siering (Edgar Selge), der mit unerbittlicher Strenge über Poll regiert, ein kostbareres Geschenk als die Ankunft seines entfremdeten Kindes aus erster Ehe. Der Tod wirft in dem heraufziehenden Ersten Weltkrieg seinen alles verschlingenden Schatten voraus. Der Tod droht dem verwundeten Anarchisten, den Oda heimlich versteckt. Zwischen „Schnaps“ (Tambet Tuisk) – so nennt sie ihn — und ihr entspinnt sich eine fragile geistige Liebesgeschichte. Bedeutender aber ist Odas künstlerische Selbstfindung und Reifung, bei der Schnaps ihr hilft. Kraus kreiert mit seinem beeindruckenden Drama eine der raren Filmbiografien, welche ihre weibliche Hauptfigur nicht durch reale oder fiktive Romanzen definiert, sondern ihre charakterliche Entwicklung und ihr Werk. Der morbide Glanz des von mehr medizinischen Präparaten als Menschen bewohnten Anwesens erweckt die düster-lyrischen Versen Schäfers zum Leben.

„Der Tod ist wie ein Kind in deinem Leibe, du speisest mit dem Schlage des Blutes ihm die Geburt“, schrieb Schäfer über die finstere Pracht, in welcher der verrohte Hirnforscher für russischen Garnisonstruppen Feste durchexerziert, die einer nimmer endenden Folge von Leichenschmausen gleichen. Verblendet wie die Soldaten sich an den Zarismus klammern, folgt von Siering medizinischen Thesen, die morsch sind wie die mächtigen Stehlen, welche das Bauungetüm seines Gutshaus über das Meer heben. Der fanatische Hirnforscher, mehr wahnsinniger Wissenschaftler als Arzt, ist die größte Monstrosität des pathologischen und psychologischen Gruselkabinett im halb zum Labor umgebauten Poll. Fasziniert vom Zerlegen von Körpern, nicht von deren Heilung, kann es von Siering kaum erwarten, die noch zuckenden Körper der niedergeschossenen Anarchisten zu konservieren. Der Leib ist für ihn nur ein Studienobjekt, eine Verbrauchsmasse, die im Krieg Kanonenfutter sein wird. Dessen Räderwerk droht das pompöse Totenhaus zu zermahlen, das in Szenen untergeht, die unmittelbar Schäfers Werk entlehnt scheinen.

„Und das alte, runde Zeichen / Brennt sie mit dem Feuermal, / Donnernd rollen Räderspeiche / Aus der Götter reichem Saal.“

Dass der Regisseur und Autor der Großneffe der als Oda Kraus geborenen Hauptfigur ist, soll nur eine kleine Randnotiz sein. Denn es bedarf keines zusätzlichen Anreizes, um sein von dunkler Poesie schillerndes Poll interessanter zu machen. „Unsere Zukunft ist zu Ende“, sagt Milla, die wie Oda lange fühlt, dass ihre Welt versinkt. Ein niederdrückendes Schlusswort, bevor Dunkelheit über Europa hereinbricht und das Dunkel des Abspanns über den Kinosaal.

Poll

„Noch lebt sie in Finsternissen / Mit verdorrtem, taubem Mund, / Fiebernd, wie nach Otterbissen, / Glüht das Auge hell und wund.“ Ihre eigenen Worte beschreiben am eindringlichsten das in Trauer gekleidete junge Mädchen, fast noch ein Kind (Paula Beer), welches im Jahre 1914 kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges nach Estland kommt.
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Meinungen

PHILL · 02.03.2011

WAHNSINNS-BILDER

Mellydia · 07.02.2011

Ich war von der Intensität der Bilder, der Gesichter beeindruckt - in ihnen liefen Handlungen ab - zumeist nur Handlungen, die zu leben nicht gewagt werden durften, ab.---.

Film-Jaeger · 03.02.2011

Oh, mir war gar nicht bewusst, dass es da um eine Literatinnen Biografie geht. Da werde ich gleich nochmal recherchieren.