Pickpocket (1959)

Eine Filmkritik von Jean Lüdeke

Die Virtuosität des Diebstahls

"Wie ein Poet mit seiner Feder, so drückt sich Bresson kinematografisch aus. Tief ist der Abgrund zwischen seiner Noblesse, seinem Schweigen, seinem Ernst, seinen Träumen und dem Rest der Welt, der diese für Unsicherheit und Obsession hält. Bresson zeigt uns in Pickpocket ohne jeglichen erzählerischen Kunstgriff den inneren Zwang, der den Dieb in das Maul des Löwen treibt, und die Macht der Liebe, die ihn befreit, trotz der Gitterstäbe seiner Zelle", brachte es Filmpoet Jean Cocteau auf den Punkt. Bresson, der so kühl kalkuliert und so elliptisch karg inszeniert, wollte nie etwas erörtern oder gar psychologisieren, und doch bebilderte er stets viel viel minutiöser seine anscheinend simplen Storys.

Michel (Martin Lassalle) wird aus Armut und intellektuellem Übermut zur Taschen-Klaubacke: Besondere Menschen seien eben im Recht, sich über die Gesetze hinwegzusetzen. Er vertritt diese These auch vehement gegenüber Jeanne (Marika Green), die ihn liebt, und gegenüber dem ermittelnden Kommissar (Jean Pelegri); der ihn zu recht verdächtigt, ohne ihn jedoch überführen zu können.

Als die Polizei seine beiden Komplizen verhaftet, flüchtet Michel aus der Seine-Metropole; nach seiner Rückkehr aber trifft er Jeanne wieder, die ein Kind von einem anderen erwartet. Er stiehlt abermals, um Mutter und Kind zu unterstützen, und abermals packt ihn das Fieber. Endlich wird er ertappt und verurteilt. Im Gefängnis besucht ihn Jeanne, und plötzlich entflammt die Liebe zu ihr in ihm auf.

Als Berater für die virtuosen Tachendieb-Tricksereien engagierte Robert Bresson Henri Kassagi, einen gebrieften Spezialisten aus der Szene, der auch sein Geschick später auf der Bühne als Pickpocket darbot. Die eindrucksvollsten Szenen spielen an diversen Pariser Plätzen, wie in der Metro, im Gare de Lyon oder auf der Rennbahn von Longchamp. "Einer der vier oder fünf ganz großen Meilensteine in der Filmgeschichte. Es ist ein Film voll tiefer Inspiration, frei, instinktiv, brennend, irritierend", lobte Louis Malle dieses nüchtern gefilmte Meisterwerk, "er (Bresson) hat einige der atemberaubendsten Szenen des Kinos geschaffen — etwa jene mit den Taschendieben auf der Rennbahn in Pickpocket", stimmte Martin Scorsese enthusiastisch mit ein.

Robert Bresson (25.09.1901 — 18.12.1999) war einer der bahnbrechendsten Urväter des zeitgenössischen Film überhaupt. Und wenn man beispielsweise Aki Kaurismäkis (Ariel) Werke betrachtet, findet sich sofort ein Bresson wieder. Zunächst wandte Bresson sich der Malerei zu und kam in den dreißiger Jahren zum Film. Er schrieb an mehreren Drehbüchern mit und inszenierte 1934 den Kurzfilm, Les affaires publiques, eine langjährig verschollene Komödie, die erst in den neunziger Jahren als Kopie wieder auftauchte. Nach einigen weiteren Drehbüchern, unter anderem für Stummfilm-Titan René Clair, drehte Bresson 1943 seinen ersten Langfilm als Regisseur, Les Anges du Péché (Engel der Sünde). Später bezeichnete Bresson diesen Film als den "wahren" Beginn seiner eigentlichen Filmarbeit und distanzierte sich von seinen vorhergehenden Arbeiten. 1945 folgte die desolate und prekäre Straßen-Strich-Ballade Les Dames du Bois de Boulogne; Robert Bressons Werk letzter Film, mit professionellen Schauspielern über die "professionellen" Pariser Bordstein-Schwalben im herzlosen Herz von Paris…
 

Pickpocket (1959)

Wie ein Poet mit seiner Feder, so drückt sich Bresson kinematografisch aus. Tief ist der Abgrund zwischen seiner Noblesse, seinem Schweigen, seinem Ernst, seinen Träumen und dem Rest der Welt.

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