Paris pieds nues

Eine Filmkritik von Lucas Barwenczik

Ein nostalgischer Hauch

Ein Mann öffnet die Tür einer Hütte, der Wind weht Schnee hinein und lässt eine andere arme Gestalt hilflos umherwirbeln. So verläuft eine berühmte Szene aus Charlie Chaplins Goldrausch von 1925, und so verläuft auch eine Szene aus Paris barfuß, mehr als achtzig Jahre später. Es ist erfreulich, gewisse Traditionen des Kinos fortgesetzt zu wissen. Die burlesken Clownerien der Stummfilmzeit, die auf Körpern und ihren Bewegungen im Raum basieren, sind im Komödienkino der Gegenwart rar geworden. Doch auch in ihrem nunmehr vierten Langfilm bleibt das australisch-belgische Pantomimen-Duo (und Liebespaar) Dominique Abel und Fiona Gordon genau dieser Art von Filmen treu. Sie wollen einen frischen Wind aus alten Zeiten wehen lassen.

Genau wie bei den klassischen Vorbildern ist die Handlung eher nebensächlich und liefert nur eine lose Verbindung für die verschiedenen Bühnen und Tanzflächen des Films: Die etwas ungelenke Fiona (Gordon) erhält eines Tages einen Brief, in dem ihre Tante Martha (Emmanuelle Riva) um Hilfe fleht. Sofort bricht die junge Frau von Kanada nach Paris auf, um der alten Dame in ihrem Kampf gegen die Behörden beizustehen, die sie in ein Altersheim einliefern lassen wollen. Statt ihrer Tante trifft Fiona in der Stadt der Liebe jedoch erst einmal nur den Obdachlosen Dom(inque Abel) – der sich sofort in sie verguckt.

Die kanadische Kleinstadt, die Fiona verlässt, besteht aus Miniaturmodellen, die per Stop-Motion-Effekt aus dem Boden wachsen. Und auch das Paris, das sie erreicht, wirkt wie ein großes Puppenhaus, ein gewaltiges, quasi-magisches Spielzimmer. Alles an der frankobelgischen Komödie ist stark stilisiert, ihre Welt wirkt wie romantisch verzaubert. Die Farben sind kräftig und expressionistisch, die Musik besteht vor allem aus verspieltem Banjo-Geklimper. Abel und Gordons Kino ist vor allem eines der Zitate, das Oden singt und nostalgisch in Erinnerungen schwelgt. War zuletzt bei Die Fee noch Aki Kaurismäki die Hauptinspirationsquelle, erinnert Paris barfuß am ehesten an einen Film von Jaques Tati. Eine längere Szene in einem (schwimmenden) Restaurant verweist unmittelbar auf Die Ferien des Monsieur Hulot, von dem vor allem die Grundstimmung übernommen wird. Die Geschichte entfaltet sich wie eine schöne Erinnerung, die übersteigerten Bewegungen und Zaubershow-Effekte werden zu ausgeschmückten Details einer zunehmend unklaren Vergangenheit.

Statt das Drehbuch in den Mittelpunkt zu stellen, übernehmen meist die Körper. Sie werden von den Vibrationen zu lauter Musik im Takt durchgeschüttelt, an Angelhaken um und in die Seine gezogen, fallen von Brücken, bleiben in Aufzügen stecken oder tanzen im Schutz der Dunkelheit auf der Spitze des Eifelturms. Sie verzehren sich nach einem anderen und präsentieren ein schräges sexuelles Splitscreen-Bett-Ballett, welches in einem orgiastisch auf und ab hüpfenden Zelt kulminiert. Pierre Richard absolviert einen kurzen Gastauftritt und nimmt an einer Hommage an Shall We Dance teil. Neu im Repertoire des Duos ist ein Marx-Brothers-artiger Sprachwitz, der zu einem großen Teil aus den kulturellen Unterschieden zwischen der Kanadierin und den Franzosen um sie herum entspringt. Ihr vierter Langfilm enthält wahrscheinlich so viel Dialoge wie die drei vorhergehenden zusammen. Highlight dieser neuen Gesprächigkeit ist eine außergewöhnliche Grabrede, die freundlich beginnt und mehr als gnadenlos endet.

Viele Szenen geraten ein wenig skizzenhaft, Ideen werden lediglich angerissen und dann schnell zu einem naheliegenden Ende gebracht. Ein wenig vermisst man die kumulativen Effekte der Vorbilder, die Schneeballstrukturen, die einfache Gags über sich hinauswachsen lassen. Abel und Gordon werden ihren natürlich mehr als großen Vorbildern nie ganz gerecht. Ihr Timing ist meist gemächlicher, die Versatzstücke weniger vielseitig und ambitioniert. Wo Stummfilmstars wie Chaplin neben dem Wunsch zu unterhalten auch ein soziales Bewusstsein (und damit auch eine konkrete Stoßrichtung für ihren Humor) besaßen, merkt man bei ihnen nur ersteres.
In den schwächeren Momenten wirkt Paris barfuß daher wie der hundertste Eintrag in das Genre der sentimentalen französischen Gute-Laune-Komödie. Wie ein undramatischer Hauch von nichts, zu leichtes und seichtes Zuckerwatte-Kino. In den stärksten Augenblicken gilt dasselbe, nur dass man diese Luftigkeit dann zu schätzen weiß und versteht, wie sehr diese Leerstellen auch Freiräume sind.

Für die am 27. Januar 2017 verstorbene Emmanuelle Riva war die Komödie die letzte Rolle. Sie spielt eine Art glückliches Gegenstück zu ihrer Figur in Michael Hanekes Liebe: Die Welt entgleitet ihr, den Brief für Fiona etwa wirft sie aus Versehen zuerst in den Mülleimer. Doch sie bewahrt sich ihre Unabhängigkeit und läuft durch Paris wie ein staunendes Kind. Man mag sich wundern, dass die Hauptdarstellerin von Hiroshima, mon amour ihre Karriere ausgerechnet mit einem so simplen Film beendet. Doch wenn sie in einer der letzten Szenen zu den Klängen von Erik Satie in das frühmorgendliche, von sanft in den Himmel getupften Wolkenstreifen verhangene Paris blickt, dann kann man sich kaum ein hoffnungsvolleres Schlussbild vorstellen.
 

Paris pieds nues

Ein Mann öffnet die Tür einer Hütte, der Wind weht Schnee hinein und lässt eine andere arme Gestalt hilflos umherwirbeln. So verläuft eine berühmte Szene aus Charlie Chaplins Goldrausch von 1925, und so verläuft auch eine Szene aus Paris barfuß, mehr als achtzig Jahre später. Es ist erfreulich, gewisse Traditionen des Kinos fortgesetzt zu wissen.

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