Otôto

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Eine filmische Verbeugung vor Kon Ichikawa

Meister des japanischen Kinos sind sie beide, der 2008 verstorbene Kon Ichikawa ebenso wie Yoji Yamada. Otôto / About her Brother, Yamadas neuester Streich, der zugleich den Anschluss der 60. Berlinale bildete, ist ein Remake eines Films von Ichikawa aus dem Jahre 1960 und ist damit auch eine Huldigung des großen Meisters, der vor zwei Jahren verstarb. Yoji Yamada ist nun beinahe 80 Jahre alt, hat über 100 Filme gedreht und ist nach wie vor ungemein produktiv und voller Energie. Bekannt wurde er in Japan vor allem als Erfinder der Tora-San-Filmreihe, die von 1969 bis 1996 im Rahmen der Komödienreihe Otoko wa tsurai yo / Es ist nicht leicht, ein Mann zu sein entstand und die zu den erfolgreichsten Kinofilmreihen in Japans Filmgeschichte gehört. Im Vorspann seines neuen Films Otouto hat sich Yoji Yamada selbst ein augenzwinkerndes Denkmal gesetzt. Aus der Sicht seiner Protagonistin Koharu (Yû Aoi) lässt er die Nachkriegsgeschichte Japans Revue passieren und verknüpft diese episodenhaft mit Ereignissen jener Familie, von der der Film erzählen wird. Und ganz nebenbei wird dabei die Tora-San-Filmreihe erwähnt, die in den späten 1960ern und 1970ern Kultstatus in Japan erreichte. Was leicht als Koketterie aufgefasst werden könnte, gibt in Wahrheit die Zielrichtung des kommenden Films vor, definiert dessen Themen und Tonalität: Hier wie dort stehen Menschen im Mittelpunkt, die nicht unbedingt auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Und zugleich wird es neben tragischen Momente auch durchaus heitere Seiten geben. Erwartungen, die sich voll und ganz erfüllen.
Otôto / About her Brother ist ein Film, der auch von abwesenden Männern handelt: Da ist einerseits der früh verstorbene Ehemann der Apothekerin Ginko (Sayuri Yoshinaga), die gemeinsam mit ihrer Tochter Koharu und ihrer schrulligen und leicht senilen Schwiegermutter zusammenlebt. Trotz des frühen Verlustes ihres Ehemannes und des Vaters ihrer Tochter, der noch bei jedem Essen geehrt wird, funktioniert die Familie, ist Koharu mittlerweile zu einer selbstbewussten und wohlerzogenen jungen Frau herangewachsen, die nun kurz vor dem Vermählung mit einem jungen Arzt steht. Bei dieser Hochzeit drängt sich nun der zweite abwesende Mann in den Familienverbund, es ist Ginkos jüngerer Bruder Tetsuro (Tsurube Shôfukutei), das schwarze Schaf der Familie, ein Trunkenbold und angeblicher Schauspieler, der mit seinen Alkoholeskapaden die Hochzeit zu einer gesellschaftlichen Katastrophe werden lässt. So unvermittelt, wie er auftaucht, verschwindet er wieder. Doch auch wenn die Familie diesen Mann am liebsten vergessen und verdrängen will, nach einiger Zeit drängt er sich wieder in ihr Leben, dieses Mal in Gestalt seiner Ehefrau, die unter Tränen gesteht, dass Tetsuro hochverschuldet ist. Voller Pflichtgefühl gegenüber ihrem jüngeren Bruder übernimmt Ginko dessen Schulden und opfert dafür all ihre Ersparnisse. Danach geht abermals einige Zeit ins Land, bis die Familie eine neue Hiobsbotschaft von Tetsuro erreicht – er ist schwer krank und hat nur noch kurze Zeit zu leben. Wenn sich die Familie also mit ihm aussöhnen will, muss es schnell gehen…

Virtuos und mit leichter Hand wechselt Yamada in seinem Film zwischen Momenten höchster Komik und tiefster Tragik, ohne dass dabei das eine oder das andere als störend empfunden würde. Wie in dem dänischen Wettbewerbsfilm En Familie geht es auch hier um Familie, ums Sterben und darum, wie der Tod die Sicht auf familiäre Konstellationen unwiderruflich verändert. Ganz nebenbei übt Yamada milde Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen soziale Unterschiede immer noch gewaltig sind. Und er feiert mit unverhohlener Sympathie für die „kleinen Leute“ die Solidarität des Stadtviertels, die uns beinahe nostalgisch vorkommt. Es ist ein gütiges kleines Universum, das er zeichnet. Nicht ohne Probleme, aber dennoch eine lebenswerte Umgebung, in der familiäre Bande alle Widerstände überwinden können. Am Ende zeigt sich sogar die alte Schwiegermutter mit dem schwarzen Schaf der Familie versöhnt und stellt fest, dass sie beide mehr einander ähneln, als sie das wahrhaben wollte.

Auch wenn uns Ginkos aufopferungsvolle Rolle als allzeit gütiges weibliche Familienoberhaupt manchmal ein wenig unglaubwürdig vorkommt und Tsurube Shôfukuteis Interpretation des Tunichtgutes für westliche Sehgewohnheiten mitunter recht übertrieben wirkt – mit seinen sparsamen Mitteln, dem Blick für Details und dem Mut zum großen Gefühl am Ende macht Yamada diese kleineren Schwächen locker wieder wett und sorgt am Schluss für feuchte Augen und viel Ergriffenheit.

In gewisser Weise war Otôto / About her Brother der ideale Abschlussfilm der Berlinale 2010. Zum einen deshalb, weil er Themen des Festivals und des Wettbewerbs aufgriff und insbesondere auch den Eröffnungsfilm Apart Together spiegelte, zum anderen aber auch, weil er – passend zum 60. Jubiläum des Festivals – an dessen Traditionen erinnerte und Yoji Yamada, dem Träger der diesjährigen Berlinale Kamera für sein Gesamtwerk, seine Referenz erwies. Und zuletzt waren es auch der milde Tonfall und das über allem stehende Thema der Versöhnung, die so manchen Kritiker am Ende dann doch noch milder stimmten. Das Beste kommt zum Schluss? Vielleicht nicht ganz. Dennoch: Yojo Yamadas Abschlussfilm der Berlinale hat mit vielem versöhnt, was zuvor im Wettbewerb das Missfallen vieler Journalisten erregte.

Otôto

Meister des japanischen Kinos sind sie beide, der 2008 verstorbene Kon Ichikawa ebenso wie Yoji Yamada. „Otôto / About her Brother“, Yamadas neuester Streich, der zugleich den Anschluss der 60. Berlinale bildete, ist ein Remake eines Films von Ichikawa aus dem Jahre 1960 und ist damit auch eine Huldigung des großen Meisters, der vor zwei Jahren verstarb.
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