Oscar Shorts 2016: Live Action

Eine Filmkritik von Sonja Hartl

Innere und äußere Konfliktzonen

Alles wird gut heißt der österreichisch-deutsche 30-Minüter, der bei den Oscars 2016 zu den fünf nominierten Live-Action-Kurzfilmen gehört – und natürlich führt der Titel in die Irre. Denn gar nichts wird gut in diesem starken Beitrag von Regisseur und Drehbuchautor Patrick Vollrath. Dabei beginnt der Film mit einer ganz alltäglichen Szene: Michael (Simon Schwarz) holt seine Tochter Lea (Julia Pointer) von seiner geschiedenen Ehefrau ab. Lea freut sich auf ihre zwei Tage bei ihrem Vater, sie begrüßt ihn herzlich – ihre Eltern würdigen sich indes keines Blickes und sprechen kein einziges Wort. Und als der neue Partner von Leas Mutter zur Verabschiedung noch kurz an das Fenster von Michaels Kleinwagen kommt, reicht ein kurzer Blick auf seinen BMW, um Michaels gegenwärtige Situation zusammenzufassen: die Frau ist weg, ihr neuer Mann hat mehr Geld und seine Tochter sieht er nur nach Vereinbarung.
Aber er fährt mit ihr erst einmal in ein Spielwarengeschäft, in dem sie sich aussuchen darf, was sie möchte. Lea versteht es, die geschiedenen Eltern gegeneinander auszuspielen („Das dürfte ich bei denen nie!“) und scheinbar geht das Verwöhnprogramm weiter: Sie machen einen kurzen Stopp an einem Fotoautomaten, dann gibt es Fast-Food-Essen und ein Besuch im Prater wird in Aussicht gestellt. Doch vorher muss Michael noch kurz etwas erledigen – und spätestens hier zeigt sich, was sich vorher lediglich emotional angedeutet hatte: Irgendetwas stimmt nicht mit Michael, er ist zu gehetzt, steht zu sehr unter Druck, seine Nervosität ist zu allgegenwärtig. Tatsächlich will Michael noch den Notfallpass für sich und seine Tochter abholen, er will sich mit ihr absetzen. Während Michael nun versucht, seine Tochter zu beruhigen und zugleich stetig nervöser wird, beginnt die achtjährige Lea zu ahnen, dass etwas nicht stimmt. Hier zeigt Julia Pointer eine beeindruckende Leistung, sie wird von dem achtjährigen Mädchen, das versucht, sich ein Geschenk zu erschmeicheln, zu einem Kind, das unter der Trennung leidet und mitansehen muss, was der Verlust der Familie mit dem Vater macht. Es wird nicht erzählt, wie es zur Trennung gekommen ist oder warum der Vater mit ihr die Stadt nicht verlassen darf. Aber es reicht vollends, diese Menschen an diesem wichtigen Punkt in ihren Leben zu sehen. Das ist sehr beeindruckend, spannend – und zudem in nur 30 Minuten komplex erzählt.

Die jungen Schauspieler sind auch ein Trumpf des Kurzfilms Shok (Friend) aus dem Kosovo. Der Film beginnt mit einem verschmutzten Fahrrad, das fortan fast leitmotivisch durch den Film führen wird. Zu Beginn findet es ein erwachsener Mann auf einer Straße und er beginnt sich zu erinnern. Vor 20 Jahren sind zwei Jungen diese Straße entlanggefahren, Oki (Andi Bajgora) saß auf dem Sattel, sein Freund Era (Eni Cani) auf dem Gepäckträger. Das war das Jahr 1998, der Kosovo war von Serbien besetzt und Oki hatte ein Jahr lang Mandeln verkauft, bis er sich das Fahrrad leisten konnte. Auch Era hat einen Plan: Er will den serbischen Soldaten Zigarettenpapien verkaufen, damit er ebenfalls Geld für ein Gefährt verdient. Aber auf brutale Weise werden die Jungen die ethnische Säuberung und die Folgen der Besatzung kennenlernen. Indem sich Regisseur und Drehbuchautor Jamie Donoughue in seinem Film auf die Perspektive der Kinder verlässt, bringt er eindringlich zum Ausdruck, wie sie die Besetzung des Landes erleben. Sie haben Angst, versuchen aber, sich anzupassen – und können in einiger Hinsicht die Folgen nicht abschätzen. Zudem zeigt er in seinem Film, der auf wahren Erlebnissen eines des Produzenten, Eshref Durmishi, basiert, wie Soldaten auf Macht reagieren. Ebenfalls ein starker, sozialrealistischer Beitrag.

Auch der 25-minütige amerikanische Kurzfilm Day One wurde von wahren Ereignissen inspiriert und spielt in einem Krisengebiet: Es ist der erste Tag von Freda (Layla Alizada) als Übersetzerin des US-Militärs in Afghanistan. Sie begleitet die Soldaten in ein Dorf, hadert mit den klimatischen Bedingungen und findet sich schon bald inmitten eines Dramas wieder, als bei einer Kontrolle ein afghanischer Mann verhaftet werden soll und dessen hochschwangere Frau das Kind zur Welt bringt. Es folgen eine Reihe hochdramatischer Komplikationen im Umfeld dieser Geburt, die insgesamt diesen Film überfrachten – zumal Regisseur und Drehbuchautor Henry Hughes vor lauter übergroßen Ereignissen die eigentlich packende, ‚kleinere‘ Geschichte der Übersetzerin übersieht. Zu sehr betont er deren Kinderlosigkeit, zu sehr ist der Schluss ein unter den Umständen zwar glückliches, aber unglaubwürdiges Ende, das zudem zu viele Fragen offenlässt und zudem die Heldenrolle (die Amerikaner) und die Leidenden (die Afghaner) zu einfach verteilt. Sicherlich ist es schwierig, einen Film, der auf wahren Ereignissen basiert, Unglaubwürdigkeit vorzuwerfen. Aber Day One simplifiziert letztlich so viel, dass er vielmehr als Teil eines größeren Films denn als eigenständiges Werk wirkt.

Dass sich aus dem Zusammenprall verschiedener Kulturen auch heutzutage noch Witz generieren lässt, zeigt der Kurzfilm Ava Maria. Er spielt in der West Bank und beginnt in einem Kloster, in dem arabische katholischen Nonnen sich dem Schweigen verschworen haben. Aber dann kommt es zu einem Unfall, bei dem ein Auto die Marienstatue vor dem Kloster umfährt. Im Auto sind drei jüdische Siedler – ein Mann, seine Ehefrau und seine widerwillige Mutter. Sie suchen Hilfe im Kloster, aber es ist Freitagabend, der Sabbat beginnt, daher dürfen sie keine technischen Geräte mehr anfassen. Deshalb müssen die schweigenden Nonnen und jüdischen Siedler Möglichkeiten finden, dass die Siedler weiterfahren können, ohne dass sie alle zu viele Regeln ihrer Religion verletzten. Das führt zu teilweise absurd-witzigen Situationen – und verweist auf einen anderen Weg, über das Leben in der West Bank zu erzählen.

Die Story des letzten Films der oscarnominierten Kurzfilme klingt zunächst weit unspektakulärer als die der vier anderen Beiträge und ist vor allem viel weniger verhaftet in der rauen Realität der Konfliktzonen der Welt: Greenwood (Matthew Needham) stottert. Deshalb ist er nicht in der Lage, mit einer Telefon-Hotline über eine Rechnung zu sprechen oder eine Frage nach dem Weg zu beantworten. Lediglich mit seinem geduldigen Vater spricht er, ansonsten gibt er vor, nicht hören und sprechen zu können. Aber Greenwood liebt die Sprache, er arbeitet mit Buchstaben und Schriftarten. Diese Liebe wird vor allem über die Ton-Ebene vermittelt, auf der beständig Greenwoods Gedanken und Überlegungen zu hören sind, ohne dass es affektiert wirken würde. Vielmehr wird dadurch die Diskrepanz zwischen innerer und äußerer Wahrnehmung deutlich. Dann ändert sich etwa in Greenwoods Leben. Über Facebook hat er Ellie kennengelernt, sie chatten seit sechs Monaten und haben Spaß. Aber als Ellie ein Treffen im ‚wahren Leben‘ vorschlägt, bekommt Greenwood Angst – und weiß nicht, ob er hingehen soll. Wunderbar gelingt es Regisseur und Drehbuchautor Benjamin Cleary in Stutterer die Gefühle und Ängste seiner Hauptfigur in einem Film einzufangen, der ästhetisch an die typischen Indie-Streifen erinnert, aber letztlich klug mit der Wahrnehmung der Zuschauer spielt. Und inmitten dieser ganzen persönlichen Geschichten, die die Kurzfilme insgesamt erzählen, scheint dieser charmante Beitrag der persönlichste zu sein.

Oscar Shorts 2016: Live Action

„Alles wird gut“ heißt der österreichisch-deutsche 30-Minüter, der bei den Oscars 2016 zu den fünf nominierten Live-Action-Kurzfilmen gehört – und natürlich führt der Titel in die Irre. Denn gar nichts wird gut in diesem starken Beitrag von Regisseur und Drehbuchautor Patrick Vollrath.
  • Trailer
  • Bilder

Meinungen