Orientierungslosigkeit ist kein Verbrechen (2016)

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Ziellosigkeit als Ziel

Der Film fängt an als Realität, mit Bildern einer Demo in Berlin. Eine Realität, die direkt verfremdet wird durch verpixelte Bildflächen, die die Gesichter unkenntlich machen. Er geht weiter als Farce, auf einem kleinen Motorboot interviewt die Journalistin Wirtschaftsbonzen, die von der Außen-, Sicherheits- und Flüchtlingspolitik profitieren; im Hintergrund spielen ein paar grölende Besoffene Strippoker, bis alle nackig sind. Dann geht er weiter als Roadmovie im Nirgendwo ins Nirgendwo – die Journalistin reist durch Griechenland auf Flüchtlingsrecherche und auf der Suche nach einer Filmhandlung. Bei Orientierungslosigkeit ist kein Verbrechen von Marita Nehers und Tatjana Turanskyj ist der Titel Programm: Ziellosigkeit ist das Ziel.

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Irgendwo geht die satirische Farce, die der Anfang verspricht, verloren. Oder sie verlagert sich in den Hintergrund, dahin, wo vielleicht nicht einmal die Filmemacherinnen und ihre Protagonistinnen sie vermuten oder erkennen. Nina Kronjäger spielt eine Journalistin, die durch Griechenland reist, wir sind im Jahr 2014, noch vor der großen Welle der Vertriebenen und Gestrandeten. Sie mache „Urlaub und Recherche“, sagt sie einmal, „über Außengrenzen, über Migration und über Sicherheitstechnologien.“ Das sieht dann so aus, dass sie über Feldwege auf einen Hügel fährt, von dort hat man eine tolle Aussicht auf ein provisorisches Abschiebegefängnis, und sie ruft hinunter: „I am a journalist! Where do you come from?“. Sie spricht kurz mit der Köchin eines Hotels, wo das Wachpersonal nächtigt, und sie fotografiert heruntergekommene Spielplätze, das kann sie vielleicht nebenher an eine Elternzeitschrift verkloppen. Ansonsten weiß sie wenig anzufangen mit sich und ihrer Profession – weiß aber zu klagen darüber, dass demnächst vom Verlag 20 feste Freie rausgeschmissen werden. Sie lebt in andauernder prekärer Unsicherheit, seit 20 Jahren. Und hat keine Ahnung, was sie in Griechenland will.

Sie trifft eine Anhalterin. Die ist sichtlich Aktivistin, mit Parka und Wollmütze, und wurde von ihrem Freund versetzt. Die Aktivistin ist Feuer und Flamme für all die Refugee-Projekte in Berlin, kann sich diese Leidenschaft aber nur leisten, weil sie Millionärstochter ist und eine Wohnung von den Eltern geschenkt bekommen hat. Von privilegierter Stellung aus will sie die Welt verbessern – die Mitbewohner in ihrer kostenlosen Wohnung müssen freilich Miete zahlen. Sie hört sich an wie eine junge Mittzwanzigerin – gespielt wird sie von Anna Schmidt, immerhin an die 40 Jahre alt, sprich: Eine Frau in permanenter Midlife-Crisis, die das, was sie in ihrem Leben nicht hinkriegt, auf ihr Aktivistinnen-Hobby projiziert.

Die Aktivistin und die Journalistin, beide in persönlichen Krisen, beide verloren im Leben und gefangen in Beruf und Berufung – es ist nicht wirklich sicher, ob Orientierungslosigkeit ist kein Verbrechen dies erzählen will, der Film tut es jedenfalls. Nutzt den Flüchtlingskrisenhintergrund, um von individuellen Krisen zu sprechen, in einem Roadmovie, in einer Frauen-Variante des Buddymovies inklusive deutlichen homoerotischen Bezügen, wie sie ja in der männlichen Variante seit Dick und Doof mehr oder weniger manifest sind. Die Anhalterin jedenfalls zieht mal blank, um den mediengeilen Femen-Aktivismus zu verhöhnen, gleich darauf raufen die beiden Frauen am Meeresstrand. Am Ende will die Aktivistin weiterziehen nach Lesbos.

Doch abseits dieses Subtextes – und der zwischengeschalteten nackten Männlichkeiten bei Strippoker und in einer enigmatischen Olymp-Sequenz, in dem sich die Herren in klassisch-griechischen Posen ausstellen – haben wir hier einen Film vor uns, der die Vagheit zum Programm erhebt. Und der zugleich Wichtiges und Relevantes und Authentisches erzählen will: Vieles ist improvisiert, vor Ort entstanden, beispielsweise Begegnungen und Interviews mit griechischer Landbevölkerung, halbdokumentarische Gespräche mit Leuten, die mehr oder weniger von sich und ihren persönlichen Erfahrungen mit der Flüchtlingssituation erzählen. Wobei dies 2014 gedreht wurde – interessant wäre zu erfahren, wie die, die hier mit Empathie von den geflüchteten Familien berichten, dies zwei Jahre später sähen: Würde sich da eine Änderung der Einsichten ergeben haben?

Die Protagonistinnen in der Krise, ein Land in der Krise, die Welt in der Krise – und Orientierungslosigkeit allerorten. Aber vielleicht ist Orientierungslosigkeit nicht nur kein Verbrechen, sondern eine Tugend – besser jedenfalls als die Investoren und Spekulanten, die Krisen- und Kriegsgewinnler, die wir am Anfang gesehen haben, die genau wissen, was sie wollen, besser als die Politik und ihre Ausführer, die das „Problem“ ausgrenzen wollen, die Zäune bauen und Grenzen schließen. Besser als die, die einen Plan haben – und vielleicht alles direkt an die Wand fahren.
 

Orientierungslosigkeit ist kein Verbrechen (2016)

Der Film fängt an als Realität, mit Bildern einer Demo in Berlin. Eine Realität, die direkt verfremdet wird durch verpixelte Bildflächen, die die Gesichter unkenntlich machen. Er geht weiter als Farce, auf einem kleinen Motorboot interviewt die Journalistin Wirtschaftsbonzen, die von der Außen-, Sicherheits- und Flüchtlingspolitik profitieren; im Hintergrund spielen ein paar grölende Besoffene Strippoker, bis alle nackig sind.

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