Nobody from Nowhere

Eine Filmkritik von Gregor Ries

"Fantomas" als Familienmelodram

Penibel säubert ein Mann nachts seine Wohnung in einer ruhigen Gegend, reiht seine Kleidung sorgfältig nebeneinander auf und verabschiedet sich per Telefonanruf von seinen Angehörigen, bevor er den Herd aufdreht und das gesamte Haus explodiert. Per Rückblende führt Nobody from Nowhere danach zum Alltag und Innenleben von Sébastien Nicolas (Mathieu Kassovitz), einem unscheinbaren Immobilienmakler, der mit grauem Anzug, zurückgekämmten Haaren und Kassengestell reichlich bieder wirkt. Als ihn der Pfarrer nach der Taufe seines Enkels fragt, ob ihm der Beruf Freude bereite, zögert Nicolas zunächst einen verräterischen Moment lang, bevor er bejahrt. Denn der Makler geht in seinem gesicherten Keller einem nicht ungefährlichen Hobby nach.
In seinem Beruf trifft der unscheinbare Jedermann mit verschiedenen Individuen zusammen, deren Gestus, Habitus und Intonation er heimlich studiert. Im versteckten Labor fertigt Nicolas dann Masken und Perücken an und dringt per Nachschlüssel in die Heime seiner Zufallsbekanntschaften ein, um sich deren Identität anzueignen. Doch schon bei einem seiner ersten Ausflüge muss der von dem extremen Hobby besessene Einzelgänger feststellen, dass das Unterfangen nicht ungefährlich ist – schließlich kann der experimentierfreudige Makler nicht die komplette Biografie seiner „Zufallsopfer“ kennen.

Von seiner verborgenen Manie kann Nicolas aber nicht lassen. Dann trifft er auf den exzentrischen Musiker Henri de Montalte (ebenfalls Mathieu Kassovitz), der eine neue, abgeschiedene Wohnung sucht. Nach einem verhängnisvollen Unfall, der ihm zwei Fingerkuppen kostete, schottet sich der einst gefeierte Violinist völlig von der Außenwelt und besonders von seiner Frau Clemence (Marie-Josée Croze) sowie seinem Sohn Vincent (Diego le Martret) ab. Dieser grantige Misanthrop stellt eine Herausforderung für Nicolas dar, zumal der Verwandlungskünstler bald erkennen muss, dass der ebenfalls musikalisch begabte Junge die Nähe seines Vaters dringend benötigt.

Im Grunde stellt die dritte Regiearbeit des Drehbuchautors Matthieu Delaporte (Der Vorname) eine Variante des Alec-Guinness-Klassikers Der Sündenbock (1959) dar, in dem sich der Doppelgänger allmählich als besserer Mensch als das Original entpuppt. Ihren Protagonisten zeichnen Delaporte und sein langjähriger Co-Autor Alexandre de La Pattelière als einsamen Menschen mit dem Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, Nähe und einem Leben jenseits der eigenen eintönigen Existenz. Beim Versuch, aus der Routine auszubrechen, begibt sich der Maskenspezialist auf einen Drahtseilakt, bei dem jederzeit die Enttarnung droht.

Delaporte glücken einige fesselnde Sequenzen, in denen sich der ambivalent gezeichnete Protagonist immer stärker in der Existenz des abweisenden Starmusikers verliert. Mathieu Kassovitz verkörpert beide Außenseiter mit unterschiedlichen Motiven als zwei Seiten einer Medaille. Seiner Wandlungsfähigkeit ist es zu verdanken, dass die etwas unglaubwürdige Prämisse funktioniert, denn es ist schwer nachzuvollziehen, dass ein Angehöriger nicht unterschieden kann, ob er mit einem Bekannten oder einem verkleideten Menschen konfrontiert wird. Außerdem muss man dem Skript einige überladene Dialoge („Man kennt niemand wirklich“) nachsehen.

Mit ausgebleichten Farben, dem Wechsel aus Zeitraffer und Retardation sowie einem schnellen Blick auf wichtige Details beweist Matthieu Delaporte ein Gespür für die aus dem Lot geratene Wahrnehmung seines Protagonisten und folgt dessen Wandlung nicht ohne Humor: So trainiert Nicolas den Umgang eines Vaters mit seinem Sohn ausgerechnet anhand von Richard Donners Superman. Letztlich funktioniert Nobody from Nowhere, der sich mit Fragen von Identität und Selbstkontrolle beschäftigt, stärker als Psychostudie denn als Thriller, und ist quasi Fantomas als Familienmelodram.

Nobody from Nowhere

Penibel säubert ein Mann nachts seine Wohnung in einer ruhigen Gegend, reiht seine Kleidung sorgfältig nebeneinander auf und verabschiedet sich per Telefonanruf von seinen Angehörigen, bevor er den Herd aufdreht und das gesamte Haus explodiert. Per Rückblende führt „Nobody from Nowhere“ danach zum Alltag und Innenleben von Sébastien Nicolas (Mathieu Kassovitz), einem unscheinbaren Immobilienmakler, der mit grauem Anzug, zurückgekämmten Haaren und Kassengestell reichlich bieder wirkt.
  • Trailer
  • Bilder

Meinungen