No Place On Earth

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Dem Holocaust entkommen – in einer Höhle

Im Jahr 1993 findet der New Yorker Höhlenforscher Christopher Nicola in den Tiefen einer ukrainischen Höhle Schuhe und andere Gegenstände. Sie belegen, dass hier Menschen in einer viel jüngeren als der prähistorischen Zeit lebten. In den umliegenden Dörfern hört er nur die vage Vermutung, es könnten Juden gewesen sein. Erst fast zehn Jahre später lernt Nicola Mitglieder der jüdischen Familie Stermer kennen, die den Holocaust überlebte, indem sie sich 511 Tage in dieser und einer anderen Höhle versteckte.
Esther Stermer, das damalige Oberhaupt der Familie, hat ihre Erinnerungen an diese Zeit in ihren Memoiren We fight to survive festgehalten. Im Dokumentarfilm der Amerikanerin Janet Tobias erzählen zwei ihrer Söhne und zwei Enkelinnen, was sie in den Jahren 1942 bis 1944 erlebten. Das Drama der Familie fängt 1939 an, als ihre für Mitte September geplante Auswanderung aus Korolowka nach Kanada wegen des Kriegsbeginns scheitert. Bis 1942 kann sie sich noch im Dorf vor den Suchtrupps der deutschen Besatzer verstecken, aber im Oktober zieht sie mit insgesamt 28 Menschen an einen sichereren Ort, die nahegelegene Verteba-Höhle. Saul und Sam Stermer und ihre Nichten Sonia und Sima Dodyk erinnern sich, dass sie dort genug Proviant hatten, aber kein frisches Wasser: Die Tropfen von der Höhlendecke mussten in Gläsern aufgefangen werden. Esthers ältester Sohn Nissel und zwei weitere Männer, die damals noch im Dorf wohnten, versorgten die Höhlenbewohner mit allem, was sie kriegen konnten.

Im April 1943 stürmt die Gestapo die Höhle und nimmt fünf Menschen gefangen, darunter die kleine Sima. Die anderen entkommen über einen selbst angelegten zweiten Ausgang. Die ukrainische Polizei soll die Gefangenen erschießen, lässt sich aber auf einen Tauschhandel ein, der drei von ihnen das Leben rettet. Auf der Suche nach einem neuen Versteck stoßen die jungen Männer der Familie auf eine Grube im Wald, die sich als Eingang zu einer noch unbekannten Höhle entpuppt: der über 123 Kilometer langen Priestergrotte. Im Mai 1943 steigen 38 Menschen in ihr neues Zuhause hinab, in dem es zwar frisches Wasser, aber keine Nahrung gibt. Nachts müssen ein bis zwei Männer pro Familie hinaus, um Essen aufzutreiben. Ein Bauer, der sie beim Holzmachen im Wald sieht, ruft die Polizei, die den Eingang zur Höhle zuschaufelt. Zum Glück gelingt es den Bewohnern, rechtzeitig einen anderen Ausgang freizulegen. Im März 1944 hören die Höhlenbewohner draußen die Front. Als sie im April, nach fast einem Jahr unter der Erde, endlich befreit werden und durch das Dorf gehen, begrüßt sie niemand. Nur ein deutscher Schäferhund eilt ihnen freudig entgegen.

Die Regisseurin, die ursprünglich aus dem Fernsehjournalismus kommt, hat keinen Aufwand gescheut, um die besten Aufnahmen zu bekommen. Zunächst besuchte sie die Höhlen allein mit dem Hobbyforscher Nicola. Dann begleitete sie 2010 eine Besuchsgruppe mit dem über 90jährigen Saul Stermer und seinem Bruder, den beiden Nichten und zwei Enkeln der Überlebenden zu den ukrainischen Höhlen. Diese Szenen erscheinen am Schluss des Films, wo Saul sagt, es sei eine Million wert, seiner Enkelin diesen Ort zeigen zu können. Erst danach nahm Tobias die Interviews mit den vier einstigen Höhlenbewohnern auf, die heute in Kanada und den USA leben. Und in einem weiteren Schritt inszenierte sie das Dokudrama mit ungarischen Schauspielern in der größten Tropfsteinhöhle Europas in Ungarn.

Dieses minutiöse Vorgehen sorgt nicht nur für eine Fülle spannender Bilder, sondern sichert auch die Erzählung aus erster Hand: Kein Dritter würde die Ereignisse so authentisch und bewegend schildern können wie Saul und Sam, Sonia und Sima. Ihre differenzierten Erinnerungen fördern Unglaubliches zutage. Dazu gehören auch, aber nicht nur, die besonders schrecklichen Momente. Am meisten verblüfft und berührt der Humor der alten Männer Saul und Sam Stermer, in dem die jugendliche Freude von einst über jeden kleinen Triumph in diesem Überlebenskampf spürbar wird.

No Place On Earth

Im Jahr 1993 findet der New Yorker Höhlenforscher Christopher Nicola in den Tiefen einer ukrainischen Höhle Schuhe und andere Gegenstände. Sie belegen, dass hier Menschen in einer viel jüngeren als der prähistorischen Zeit lebten. In den umliegenden Dörfern hört er nur die vage Vermutung, es könnten Juden gewesen sein. Erst fast zehn Jahre später lernt Nicola Mitglieder der jüdischen Familie Stermer kennen, die den Holocaust überlebte, indem sie sich 511 Tage in dieser und einer anderen Höhle versteckte.
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