Neukölln Wind

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Urbanes (Über-)Leben

Oft entspricht die Sichtung eines Films dem Verlauf einer perfekt organisierten Reise mit genau festgelegtem Ausgangspunkt, diversen Stationen und deutlichem Abschluss. Derartige Filmerlebnisse, die einen dramatischen Bogen von der Einführung bis zur Auflösung eines Konflikts schlagen, können unterhaltsam und zufriedenstellend sein – bieten allerdings selten Überraschungen. Werke wie die Low-Budget-Produktion Neukölln Wind sind hingegen eher mit einem ziellosen Streifzug zu vergleichen, bei dem nicht alles einen Sinn zu ergeben scheint, manches recht seltsam oder unergiebig wirkt, jedoch alles irgendwie faszinierend ist, weil sich nie erahnen lässt, was noch passieren könnte.
Zu den zentralen Figuren des Leinwandgeschehens zählt der junge Immobilienmakler Kalle (Max Kidd), der im Berliner Bezirk Neukölln im Auftrag einer Firma versucht, Gebäude zu verkaufen, die dem Abriss geweiht sind – darunter auch das Haus, in dem er einst aufwuchs, bis die gesamte Bewohnerschaft den Ort wegen Asbestverseuchung verlassen musste. Ein Kollege (Dominik Djialeu) erzählt ihm von der Begegnung mit einem gesprächigen Obdachlosen in Kalles ehemaligem Zuhause – und Kalle glaubt, dass es sich dabei um seinen vor zwölf Jahren spurlos verschwundenen Kindheitsfreund Frederik (Bjoern Radler) handelt. Ebenso stoßen ein niederländischer Tourist (Marcel Romeijn), der etwas von der Landeshauptstadt sehen will, sowie die Fotografin Anne (Anne Düe), die an einer Bilderserie über Leute aus Neukölln arbeitet, auf den umherwandernden Mann. Die Freundin von Kalles Kollegen (Nina Kleinhenz-Tratz), die ebenfalls Anne heißt und gerade ihren Job verloren hat, trifft indes auf die Drifterin Anna (Alex Anasuya), ehe sie auf einer Party landet, auf der auch einige der anderen genannten Figuren anwesend sind.

In der szenischen Umsetzung und schauspielerischen Interpretation der Begegnungen, zu denen es im Laufe der Handlung kommt, liegt die Stärke von Neukölln Wind. Der Regisseur Senny Rapoport, der hier sein Langfilmdebüt präsentiert und gemeinsam mit dem Frederik-Darsteller Bjoern Radler das Drehbuch verfasste, erzeugt aus den vielen Möglichkeiten, die sich ergeben, wenn Fremde aufeinandertreffen, eine beachtliche Intensität. Die Figuren, die allesamt nicht unbedingt sympathisch sind, suchen nach Nähe, um dann doch wieder – teilweise überaus schroff – auf Distanz zu gehen; sie lächeln einander an, umarmen, streicheln, küssen, beleidigen und/oder verletzen einander, sie unterhalten sich, tanzen, brüllen, schweigen. Gegenseitiges Helfen und gegenseitiges Ausnutzen sind in den Interaktionen meist nicht unterscheidbar. Weder werden in diesem Film innige Freundschaften geschlossen, noch entwickelt sich hier aus einem hübschen Meet Cute („Blöd, dass man drinnen nicht mehr rauchen darf …“) die große Liebe – vielmehr geht es um flüchtige Momente, die man mit einem bisher fremden Menschen teilt. Dabei wird etwa ein Drogentausch als Akt spontaner Zuneigung eingefangen, während sich ein (vom Baum) gefallener Engel munter der nächtlichen, alkoholseligen Plauderei zweier Kumpels anschließt.

Neukölln Wind zeigt einen Bezirk, der im radikalen Wandel begriffen ist: Wertlose Gebäude sollen neuen Apartments weichen, Künstlerschaft soll die Gegend aufwerten. So ist Rapoports Werk eine Milieustudie (in welcher auch der im August 2015 verstorbene, im Kiez bekannte Obdachlose Rolf „Shmittie“ Schmitt auftritt) – vor allem aber ist es ein unkonventioneller, einnehmender Film über das Suchen, dem womöglich nie ein ‚Finden‘ folgen wird. Gegen Ende nimmt die Erzählung immer assoziativere Züge an; Traum und Wirklichkeit verschmelzen miteinander – da es an einem Ort, der solchen Veränderungen unterworfen ist, wohl schlichtweg keine Gewissheit geben kann.

Neukölln Wind

Oft entspricht die Sichtung eines Films dem Verlauf einer perfekt organisierten Reise mit genau festgelegtem Ausgangspunkt, diversen Stationen und deutlichem Abschluss. Derartige Filmerlebnisse, die einen dramatischen Bogen von der Einführung bis zur Auflösung eines Konflikts schlagen, können unterhaltsam und zufriedenstellend sein – bieten allerdings selten Überraschungen.
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