Mysterious Object at Noon

Eine Filmkritik von Thorsten Hanisch

Die Geburt eines Mythos

Regisseur Apichatpong Weerasethakul hatte 2010 mit Uncle Bonmee erinnert sich an sein früheres Leben als erster thailändischer Regisseur die Goldene Palme in Cannes gewonnen und damit das Kino seines Heimatlandes endgültig auf die Landkarte weltweiter Cineasten geholt. Völlig zu Recht, denn der bildgewaltige Filmemacher besticht durch einen sehr eigenwilligen, fast schon ein wenig verspielten Umgang mit seinem Medium, das gerne Konventionen zerbröselt und die entstandenen Splitter wieder neu zusammensetzt.
Splitter zuhauf finden sich auch bei Mysterious Object at Noon, einem Frühwerk des Autorenfilmers, das dank des österreichischen Filmmuseums und der von Martin Scorsese gegründeten Film Foundation nun in rekonstruierter Form vorliegt.

Weerasethakul bedient hier der Exquisite Corpse-Technik, einer im Surrealismus erfundenen Methode, mit der die Entstehung von Texten und Bildern durch Zufall gelenkt beziehungsweise das kritische Denken ausgeschaltet und der metaphorische Geist aktiviert werden soll. Oder, einfacher, es soll Kunst aus dem Inneren des Menschen heraus entstehen. Es geht darum, einen Satz oder eine Zeichnung durch mehrere Personen konstruieren zu lassen, ohne dass die Personen vom jeweiligen Werk des Vorgängers wissen. Der eine fängt zum Beispiel mit einem Wort an, knickt den Zettel um und reicht ihn weiter, der Nächste ergänzt um ein weiteres Wort und reicht wieder weiter. Alternativ zeichnet eine Person einen Kopf und reicht die Zeichnung der nächsten zur Weiterführung. Zur Orientierung dient lediglich eine grobe Vorgabe, etwa das Satzkonstrukt Subjekt, Verb, Objekt. Oder dass ein Körper gezeichnet werden soll.

Weerasethakul hat diese Methode auf einen Spielfilm übertragen: Mit einem winzigen Budget fuhren Regisseur und Drehteam von Norden nach Süden durchs ländliche Thailand und forderten Bewohner zum Improvisieren auf.

Der Kern ist hierbei die Geschichte um die Lehrerin Dogfahr, die von einer Frau am Anfang des Films begonnen wird und die — ausgehend von einem (vermutlich realen) Erinnungssplitter an eine schmerzhafte Kindheit — im Laufe der kommenden 90 Minuten dank vieler zusätzlicher Storyfragmente immer ausladender wird und dabei die anfängliche tonale Ebene gelegentlich komplett verlässt. So kommen auch Außerirdische ins Spiel, allerdings kehrt Mysterious Object at Moon immer wieder zurück in die vermeintliche Wirklichkeit, wirft Authentizitätsanker in Form von Nachrichtensendungen oder Aufnahmen vom Pazifikkrieg, die die Geschichte(n) untermauern sollen.

Die Frage, welches Mosaiksteinchen real ist oder nicht, wird allerdings immer unwesentlicher, zumal Weerasethakul mit seinem verqueren Inszenierungsstil (Bild und Ton laufen gegensätzlich zueinander, Szenenübergänge verwirren durch „unlogische“ Abfolgen etc.) dem Zuschauer jeden Halt nimmt.

Gleichzeitig stellt sich aber ein überraschender Effekt ein: Dieser ganze Splitterregen an Storyfragmenten, Bildern und Tönen, die an der lockeren, narrativen Schnur aneinandergereiht werden, vermittelt mehr und mehr eine Ahnung davon, wie Mythen entstehen, denn in all diesen Erzählungen, so absurd sie gelegentlich auch erscheinen mögen, schwingt immer auch ein Hauch (oftmals tragischer) Realität mit. Dogfahr wird — eben weil nicht klassisch inszeniert, sondern von Menschen, in einem intrinsischen Zeugungsakt, geformt — mehr und mehr lebendig, eine erzählte Figur, die ins Leben überschwappt, den Film verlässt. Und so endet Mysterious Object at Noon auch quasi im Nichts; die Kamera versagte bei den Dreharbeiten, Mythen lassen sich eben nicht bändigen.

Auf technischer Seite ist die DVD tadellos, besonders erfreulich sind die weißen, sehr gut lesbaren Untertitel vor schwarzer Fläche. Ein ausgesprochener Knaller ist das Bonusmaterial: Nicht nur, dass ein umfangreiches, sehr informatives Booklet beiliegt, im ROM-Bereich findet sich auch noch ein 2009 erschienenes, mittlerweile vergriffenes, 256-seitiges Buch über den Regisseur. Außerdem kann man seinen Weerasethakul-Horizont noch mit zwei Kurzfilmen und einem mittellangen Film erweitern. Mehr value for your money geht kaum. Toll!

Mysterious Object at Noon

Regisseur Apichatpong Weerasethakul hatte 2010 mit „Uncle Bonmee erinnert sich an sein früheres Leben“ als erster thailändischer Regisseur die Goldene Palme in Cannes gewonnen und damit das Kino seines Heimatlandes endgültig auf die Landkarte weltweiter Cineasten geholt.
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