Mord in Pacot (2014)

Eine Filmkritik von Sonja Hartl

Nach dem Beben

„Die Stadt ist tot. Die Stadt ist tot“, schreit der Mann (Alex Descas) seine Frau (Ayo) immer wieder an. Er kann nicht begreifen, dass sie nicht sehen will, wie sehr sich die Stadt und ihr Leben verändert haben – nach dem Beben, das Haiti erschüttert hat. Doch auch er will nicht anerkennen, dass es auf ihrem Grundstück riecht, ja, regelrecht stinkt, nach Tod und Verwesung. Denn dann müsste er den Gedanken zulassen, dass sie jemanden verloren haben. Und in seinem Film Mord in Pacot erzählt Raoul Peck von Verlusten und Veränderungen, die auf das Erdbeben 2010 in Haiti folgten.

In Anlehnung an Pier Paolo Pasolinis Teorema stehen vier Personen im Mittelpunkt von Mord in Pacot: das bis zum Schluss namenslos bleibende Ehepaar, ihr Mieter Alex (Thibault Vinçon) — ein französischer Katastrophenhelfer — und dessen 17-jährige Geliebte Andrémise (Lovely Kermode Fifi). Sie leben zusammen auf einem Grundstück; Alex und Andrémise in der baufälligen Villa, das Ehepaar in der ehemaligen Bedienstetenunterkunft. Es musste seine Villa vermieten, um Geld einzunehmen, das Beben hat die Lebensgrundlage zerstört. Mit diesen vier Personen treffen verschiedene gesellschaftlichen Schichten aufeinander: das Ehepaar steht für das erstarrte Großbürgertum, das erstmals mit einer Lebenswelt außerhalb seines Wohlstandsghettos konfrontiert wird, Alex verkörpert die weißen Helfer, hinter deren Altruismus Egozentrik steckt und schließlich repräsentiert Andrémise die lebenshungrige junge Generation aus einfachen Verhältnissen, die sich unbekümmert um ihre Bedürfnisse sorgt. Insbesondere durch Andrémise dringt das Leben in diesen Film ein, sie bringt die starre Sprachlosigkeit ins Wanken, in der das Ehepaar gefangen ist, indem sie ohne Worte viel versteht und Dinge offen anspricht. Deshalb konfrontiert sie die ehemals reiche Haitianerin mit ihren Defiziten, macht aus ihrer Verachtung gegenüber den weißen Helfern keinen Hehl, vertraut aber gleichermaßen auf Alex‘ Unterstützung. Doch obwohl das Beben die soziale Ordnung erschüttert hat, wird Andrémise eine Außenseiterin bleiben, zwar wird sie begehrt, aber nicht akzeptiert.

Durch diese exemplarischen Figuren und die Konzentration auf einen Handlungsort erscheint Mord in Pacot wie eine Versuchsanordnung, in der die Figuren ihre soziale Herkunft repräsentieren und oftmals in bedeutungsschwangeren, rätselhaften Dialogen sprechen. Dadurch enthüllen sich allmählich die Tragödie, die das Ehepaar hat verstummen lassen, und die Veränderungen im Alltag. Man frage nicht nach Personen, die man nicht sehe, lautet beispielsweise eine neue Höflichkeitsregel in dem Land, in dem 250.000 Menschen durch das Erdbeben verstorben sind. In diesen Momenten entfaltet sich die Kraft dieser Versuchsanordnung und des Drehbuchs, das neben Raoul Peck und Pascal Bonitzer von dem haitianischen Lyriker und Schriftsteller Lyonel Trouillot (Die Straße der verlorenen Schritte) mitgeschrieben wurde. Jedoch gleiten die Sätze bisweilen auch ins Prätentiöse und erscheint das Verhalten angesichts des betonten Spiels der Akteure allzu künstlich.

Insgesamt jedoch ist Mord in Pacot eine interessante Parabel auf die Gesellschaft von Haiti, die nach dem Beben aus den Fugen geraten ist: die Kluft zwischen Arm und Reich tritt deutlich zutage, außerdem sind weiterhin Spuren der Diktatur zu finden. Die Grundfesten scheinen erschüttert, jedoch erweist sich die Hoffnung auf einen Wandel als unbegründet: Am Ende des Films werden auf altbekannte Weise die Leichen unter den Trümmern begraben und sich die Verhältnisse konsolidieren.
 

Mord in Pacot (2014)

„Die Stadt ist tot. Die Stadt ist tot“, schreit der Mann (Alex Descas) seine Frau (Ayo) immer wieder an. Er kann nicht begreifen, dass sie nicht sehen will, wie sehr sich die Stadt und ihr Leben verändert haben – nach dem Beben, das Haiti erschüttert hat. Doch auch er will nicht anerkennen, dass es auf ihrem Grundstück riecht, ja, regelrecht stinkt, nach Tod und Verwesung.

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