Moonrise Kingdom

Eine Filmkritik von Patrick Wellinski

Für Eingeweihte

Als Zwölfjähriger hat sich Wes Anderson unsterblich in ein Mädchen verliebt. Es überkam den Regisseur, der damals Pfadfinder war, wie aus heiterem Himmel. Noch nie hat er so gefühlt, noch nie hat er so gelitten. Nicht umsonst heißt es: man ist „verknallt“. Die Amerikaner sagen dazu „crush“. Jene Heftigkeit der Gefühle, dieses unvorstellbare Beben der Emotionen, lässt sich kaum in Worte fassen. Doch nicht umsonst ist Wes Anderson Regisseur und kein Poet. Wenn ihm auch die Worte fehlen, die passenden Bilder für jenes einschneidende Erlebnis hat er allemal.

Genau aus diesem Grund darf sein neuster Film Moonrise Kingdom, der die 65. Ausgabe des Filmfestivals von Cannes eröffnete, als das bisher persönlichste Werk des Amerikaners gelten. Auf den ersten Blick ist alles wie gehabt. Ohne Umschweife erkennt man, dass es sich bei dem Werk um einen waschechten Anderson handelt. Die Kamera fährt ganz ohne Schnitt durch die Zimmer eines Familienhauses als wäre es für Puppen und nicht für Menschen. Aus dem Off läuft „A Young Person’s Guide to Orchestra“ und analysiert den Aufbau eines Stücks der New Yorker Philharmoniker unter der Leitung von Leonard Bernstein. Und so wie ein Orchester aus vielen Instrumentengruppen besteht, wo alle ihren Platz, ihre Rechte und Pflichten haben, so müssen auch die Familienmitglieder miteinander auskommen, um eine Einheit zu bilden. Das ist die Botschaft von Moonrise Kingdom und es ist die Botschaft aller Anderson-Filme: Bitte vertragt euch.

Sam (Jared Gilman), der Pfadfinder, und Suzy (Kara Hayward), die traurig-veträumte Außenseiterin, sind beide zwölf. Sie verlieben sich und beschließen vor der Welt in die Wildnis zu flüchten. Doch schnell sind ihnen alle auf der Spur. Sams jähzornige und martialische Pfadfinder-Kollegen, deren Anführer (Edward Norton), der Polizei-Chef des verschlafenen Küstenstädtchens (Bruce Willis), bald auch Suzys neurotische Eltern (Francis McDormand und Bill Murray). Und schließlich schaltet sich auch noch eine durchsetzungsfähige Sozialarbeiterin (Tilda Swinton) ein.

Anderson, der das Skript zu Moonrise Kingdom wieder mit seinem Stammdrehbuchschreiber Roman Coppola verfasst hat, siedelt seine Geschichte im Jahre 1965 an. Das und die neblig-verblichenen Gelbtöne in die alle Bilder des Films getaucht sind, verweisen auf den autobiografischen Aspekt der Geschichte. Auch sonst findet sich wieder diese unfassbare Liebe zum Detail, die alle Anderson-Filme prägt. Da werden aus Fischerhaken Ohrringe gebastelt, in Zelte werden Fluchtlöcher geschnitten und auf absurd hohen Stämmen Baumhäuser errichtet.

Dramaturgisch hat der Film auf den ersten Blick einige Schwächen, gerade gegen Ende, wenn ein gewaltiger Sturm aufzieht und das drohende Ende der Liebe vorwegzunehmen scheint, löst sich die Konfliktsituation fast schon in Wohlgefallen auf. Zudem lastet sehr viel auf den Schultern der beiden jungen Darsteller. Im Gegensatz zum altbekannten Anderson-Ensemble (Jason Schwartzman ist auch wieder mit dabei) müssen sie die Sympathien im Zuschauerraum ernten. Suzy und Sam sind weitaus weniger neurotisch und schrullig gezeichnet als der Rest und Gilman und Hayward sind manchmal mit dieser Aufgabe sichtlich überfordert. Doch wer kann zwei schwerverliebten Preteens eigentlich widerstehen? Genau das ist auch die Frage, die man im Film hat. Warum, um alles in der Welt, wollen alle die beiden Kinder auseinanderbringen? Nun, wie so vieles bei Anderson ist die Antwort hierauf recht einfach: Die tosende Natur, die wütenden Mitmenschen sind nur Projektionen eines Kindes, dessen Gefühlswelt vollkommen aus dem Gleichgewicht geraten ist, und das vielleicht sogar spürt — so erwachsen sind Kinder dann doch — dass dieses Glück eventuell nicht ewig dauern wird.

Moonrise Kingdom hat also seine Schwächen, das lässt sich nicht ganz verkennen, und dennoch: Anderson porträtiert adoleszente Unsicherheiten und Ängste mit einem feinen Gespür für das Absurde und das Fragile einer solchen Zeit. Sicherlich ist das allein noch kein Qualitätsmerkmal und bei weitem keine Neuerfindung des Genres. Doch hinter der aberwitzigen Stoik der Darsteller, der melancholisch durchtränkten Musik und den süchtigmachenden Kamerafahrten und Schwenks, destilliert der Regisseur von The Royal Tenenbaums und Darjeeling Limited eine treibende Sehnsucht, die sich nur selten in romantischen Kitsch flüchtet. Doch diese Schlenker seien ihm verziehen, da der Film von einer überraschenden Ehrlichkeit geprägt ist, die die Wünsche und Hoffnung der Figuren nie verrät.

Und obwohl der Film in seiner verspielten, träumerischen Zärte an die eskapistischen Träumereien eines Francois Truffaut erinnert, ist Moonrise Kingdom eher ein Werk für Eingeweihte, für Mitglieder und Bekehrte des Wes Anderson-Clubs. Wer bislang nicht in diesen Kosmos der dysfunktionalen Familien, verhinderten Lieben und grotesk ausgebremsten Humoreinlagen eingedrungen ist, der wird von diesem Film erschlagen werden — oder einfach nur gelangweilt. Doch auch die Nörgler und die naserümpfenden Anderson-Verächter müssen diesmal zugeben, dass die hermetische Geschlossenheit seiner Filmwelt mittlerweile eine beeindruckende Dichte und Komplexität erreicht hat.
 

Moonrise Kingdom

Als Zwölfjähriger hat sich Wes Anderson unsterblich in ein Mädchen verliebt. Es überkam den Regisseur, der damals Pfadfinder war, wie aus heiterem Himmel. Noch nie hat er so gefühlt, noch nie hat er so gelitten. Nicht umsonst heißt es: man ist „verknallt“. Die Amerikaner sagen dazu „crush“. Jene Heftigkeit der Gefühle, dieses unvorstellbare Beben der Emotionen, lässt sich kaum in Worte fassen. Doch nicht umsonst ist Wes Anderson Regisseur und kein Poet. Wenn ihm auch die Worte fehlen, die passenden Bilder für jenes einschneidende Erlebnis hat er allemal.

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Meinungen

kim · 03.07.2012

Sehr anrührender, skurriler und intelligenter Film. Hier frönt Wes Anderson noch mehr seinen Puppenstubenwelten als bisher. Ich fand die Tiere der Arche Noah beim Theaterstück unglaublich toll, auch wenn es nix für die Handlung gebracht hat.
Die Story ist eigentlich immer die selbe bei Anderson: Unakzeptierte Außenseiter finden sich, die gegen sie verschworene Umwelt hat ein Einsehen in ihr unfairer Verhalten, Unterstützung naht und alles wird gut!

@Tiger-Oli: Ein Kinderfilm ist das auf keinen Fall, weder benehmen sich Kinder wirklich so, noch verstehen sie die Absurdität und Skurrilität. Ich nehme an, der Film ist für ein Kind sowohl beängstigend als auch langweilig.

Snacki · 02.07.2012

Ein Film, den man 5 mal sehen kann - und jedes Mal wird er neu sein. Eintauchen in die phantastischen Welten des genialen Wes Anderson.

Tiger-Oli · 04.06.2012

Moin,
Henno hat Recht - Wes Anderson ist spitze, aber in diesem Film kommt es nicht rüber, trotz aller liebevollen Details.
Der Trailer macht Spaß, aber mitten im Film dachte ich mir "huch, ist es nicht eigentlich ein Kinderfilm, und - mehr nicht?". Alles ganz süß, aber nicht so überzeichnet wie in den Tennenbaums und den Tiefseetauchern. Schade!

Jörg · 03.06.2012

Ein besonders schöner und liebenswerter Film!

Henno · 31.05.2012

pure skurrilität, bis ins letzte durcharrangierte bilder machen noch lange keinen film, der einen involwiert gar mitzieht. moonlight kingdom ist reinstes distanz-kino. wes andersons zweifellos enormes talent wird ihm im gegensatz zu tiefseetaucher oder tennenbaums hier zum verhängnis. alles bleibt in weiter entfernung und wärme baut sich niemals richtig auf, zu interlektuell ist die betrachtungsweise