Monsieur Lazhar

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Eine heilsame Beziehung

An einer Grundschule im kanadischen Montreal hat sich eine Lehrerin erhängt. Einer ihrer Schüler fand sie am Ende der Pause im Klassenzimmer. Nun wolle niemand mehr an dieser Schule unterrichten, klagt die Rektorin, Madame Vaillancourt (Danielle Proulx), die händeringend nach einem Ersatzlehrer sucht. Der einzige Bewerber ignoriert den üblichen Dienstweg, könnte aber sofort anfangen: Der Algerier Bachir Lazhar (Fellag), der von dem Vorfall aus der Zeitung erfahren hat, behauptet, in seiner Heimat unterrichtet zu haben. Monsieur Lazhar und seine Klasse, das ist die Geschichte einer heilsamen Beziehung, durch deren Brille betrachtet, selbst die Bewältigung des Traumas nicht mehr wie ein bleierner Riese erscheint.
Das gefühlvoll-charmante und gleichzeitig authentisch wirkende Drama des frankokanadischen Regisseurs Philippe Falardeau, das auf einem Theaterstück von Evelyne de la Chenelière basiert, war 2012 für den Oscar in der Kategorie „Bester fremdsprachiger Film“ nominiert. Es verbindet das aktuell anmutende Thema des richtigen Umgangs mit einer Schultragödie mit einer interkulturellen Begegnung. Bachir Lazhar ist politischer Asylant, er kennt weder Land noch Leute und schon gar nicht die schulischen Regeln. Aber er versteht mit dem Herzen, worauf es ankommt, und das umso mehr, als er selbst ein Trauma zu verarbeiten hat. Während er schon in Kanada war, fielen seine Frau und seine beiden Töchter in Algerien einem Anschlag zum Opfer.

Der neue Lehrer ist in Wirklichkeit gar keiner, denn er hat einfach den Beruf seiner Frau angegeben – warum es ihn überhaupt in diese Schule drängt, bleibt ungesagt. Wie eine männliche Mary Poppins muss er in der Ferne den Hilferuf der Kinder in Not vernommen haben und entsprechend bringt er einen Hauch von märchenhafter Poesie in die Geschichte. Vielleicht hat er intuitiv die Gelegenheit ergriffen, mit Ersatzkindern die eigene Trauer nachzuholen und gleichzeitig mit ihnen einen Weg zurück ins Leben zu suchen. Alice (Sophie Nélisse), deren Mutter (Evelyne de la Chenelière) Stewardess ist und auch in diesen Krisentagen nicht bei ihr sein kann, wird seine Lieblingsschülerin. Sie und Simon (Emilien Néron), der die erhängte Lehrerin fand, bedürfen seiner Hilfe am meisten, aber auch die anderen Elf- und Zwölfjährigen in der Klasse fühlen sich mit ihrem Schmerz ziemlich alleingelassen.

In prägnanten Szenen beleuchtet der Film exemplarisch die Stationen einer allmählichen Veränderung. In Monsieur Lazhars Unterricht geht es die meiste Zeit gar nicht ums Trauern, sondern um neuen Stoff und anspruchsvolle Diktate. Der fordernde Unterricht ist interessant und anregend. „Er redet wie Balzac“, spotten die Kinder über Monsieur Lazhars Vorliebe für literarische Sprache. Ihre witzigen Kommentare zeigen, dass sie den neuen Lehrer mögen. Wenn dann, während eines Referats zum Beispiel, plötzlich jemand den Selbstmord erwähnt, lässt Monsieur Lazhar es zu, dass noch ungenannte Konflikte wie von selbst an die Oberfläche drängen.

Auch sonst geht es in nüchtern-realistischem Stil viel um die Offenlegung von Trennendem, um das Widersprechen. Die Dialoge geraten oft zum Schlagabtausch, ohne dass der Film eine Wertung vornimmt. Dadurch kann der Zuschauer im Geiste die Themen weiter erörtern. Die ethnologisch interessierte Lehrerin Claire (Brigitte Poupart), die ein Auge auf Monsieur Lazhar geworfen hat, regt an, er solle den Kindern von seiner politischen Verfolgung in Algerien erzählen. Er aber lehnt das ab. Kulturelle Wahrnehmungsfilter oder auch nur unreflektierte Gewohnheiten der Einheimischen scheinen deutlicher auf, wenn sie mit dem Fremden sprechen. Besonders drastisch geschieht das bei der Anhörung zu seinem Asylantrag. Der Behördenvertreter bezweifelt nach oberflächlicher Sichtung der Fakten eine politische Verfolgung. Wenn Monsieur Lazhar hier darum ringt, seine Wirklichkeit in Worte zu fassen, fühlt man seine Not, und erahnt analog dazu auch die der Kinder, die nicht vergessen können, solange es noch emotionaler Korrekturen bedarf.

Monsieur Lazhar

An einer Grundschule im kanadischen Montreal hat sich eine Lehrerin erhängt. Einer ihrer Schüler fand sie am Ende der Pause im Klassenzimmer. Nun wolle niemand mehr an dieser Schule unterrichten, klagt die Rektorin, Madame Vaillancourt (Danielle Proulx), die händeringend nach einem Ersatzlehrer sucht.
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Meinungen

Ira · 03.06.2012

Mit viel psychologischem Feingefühl, ohne "psychologisierend" zu werden, ist dies ein berührender, sehr glaubwürdiger Film, der lange nachhallt. Unser westlicher Umgang mit dem Tod wird genauso hinterfragt, wie einige moderne pädagogische Konzepte. Wunderbare kleine Schauspieler, toller Hauptdarsteller.

Jörg · 16.04.2012

Teilweise dokumentarisch wirkender Film, der einen auf sanfte Weise tief berührt. Sehr empfehlenswert!

Snacki · 15.03.2012

Sehr sehr schöner Beitrag, auf seine Weise elegant, anspruchsvoll, mit den richtigen Bildern für die nicht immer einfachen Momente. Ein Film, den man lieben kann!

iris · 10.11.2011

Sehr bewegender Film, tolle schauspielerische Leistung, vor allem von den Kindern.
Der Fim wird mich noch eine Weile beschäftigen. Viel Dramatik, viel Gefühl aber auch Witz.
Das Ende lässt einen etwas im Regen stehen - ideal um nicht aus dem Kino zu gehen und zu vergessen sondern um sich danach noch mit dem Film zu beschäftigen und über das Thema zu reden.