Die Erfindung der Wahrheit (2016)

Eine Filmkritik von Lucas Barwenczik

Die Frau, die ein System war

Das Kino kennt viele Strategien, Macht darzustellen. Eine davon ist, einer Figur die Herrschaft über das Bild zu geben. Wenn sich Jessica Chastain als Lobbyistin Elizabeth Sloane in der ersten Einstellung von Die Erfindung der Wahrheit zur Kamera dreht und die stählern durchdringenden Augen aufschlägt, frontal gefilmt in der Mitte des Bilds, die Haare bewusst ein wenig asymmetrisch, so dass eines ihrer Ohren frei und das andere verborgen liegt – dann ist sie unmissverständlich als mächtig zu erkennen. Es ist eine Macht, die an sich selbst glaubt: „Lobbyarbeit bedeutet Vorrausicht. Die nächsten Schritte deines Widersachers vorauszuahnen. Gegenstrategien zu entwickeln“, erklärt sie ihre Prinzipien, und damit auch die des Politthrillers, den sie die nächsten zwei Stunden lang beherrschen wird.

Denn Macht bedeutet im Kino auch, dass ein Film tut, was die Figuren von ihm verlangen. Regisseur John Madden glaubt seiner Protagonistin und schaut deshalb voraus. Die Geschichte beginnt am Ende einer langen Kausalkette: Sloane steht vor Gericht, sie soll gegen die Ethikregeln des US-Senats verstoßen haben. Der Prozess umschließt die Handlung, manchmal kommentieren die beiden Erzählebenen einander. Drei Monate zuvor hat die eigentlich für ihren radikalen Einsatz für den Freihandel bekannte Lobbyistin ihren ursprünglichen Arbeitgeber verlassen, um sich einem politischen Himmelfahrtskommando anzuschließen. Ein neuer Gesetzesvorschlag soll bessere Hintergrundprüfungen bei Waffenkäufen etablieren. Doch die Waffenlobby ist ein schier unbezwingbarer und vor allen sehr reicher Feind, der – genau wie Elizabeth selbst – keine Skrupel hat, bis tief in das Privatleben ihrer Gegner einzudringen.

Madden inszeniert ein großes PR-Duell, ausgetragen auf allen Stufen der Geheimhaltung zwischen öffentlichen Fernsehdebatten und Spionage. Immer wieder fährt die Kamera durch Sloanes Großraumbüro und bildet den Denkprozess ihres Teams ab. Eine Idee wird in den Raum geworfen, wird zum nächsten Lobbyisten getragen, variiert und weitergeben. Später wird daraus dann eine große Demonstration, die in den Fernsehnachrichten auftaucht. Immer wieder zeigt der Thriller das Spannungsfeld zwischen solchen offenen Denkräumen und den klandestinen Hinter- und Hotelzimmern. Macht ist auch Architektur. Im Washington DC des Films ist alles aus Glas gebaut, um eine große Offenheit zu behaupten, die selten eingelöst wird. In einer Szene kann Sloane ein Gespräch von Kollegen durch die Scheiben anhand der Lippenbewegungen nachvollziehen, sie weiß die Fassaden ihrer Umwelt gegen sie einzusetzen. Sie ist eine Art Superheldin, eine halbe Naturgewalt. Menschen bereiten sich auf die Begegnung mit ihr vor.

Diese Art von Charakterstudie lässt den Film zumindest auf Momentbasis gelingen. Gelegentlich entlockt Chastain der skrupellosen Lobbyistin eine interessante Geste, einen besonders kalten Blick oder aber auch das Gegenteil – eine kurze Entgleisung, eine Eruption, vielleicht sogar einen Hauch von Zweifel. Sloane ist eine Figur, die Masken über Masken trägt. Ihr Nō-Theater-Gesicht mit der bleichen Haut und dem intensiven Lippenstift hebt sie immer wieder von ihrer Umgebung ab, Menschen scheinen neben ihr an Fokus zu verlieren und auszubleichen. Dieser Lippenstift ist es auch, der sie von ihren männlichen Kollegen abhebt. Er ist ein weiblicher Kontrastfleck in einem mehrheitlich maskulinen Umfeld. Obwohl sie betont, wie gleichgültig ihr Geschlechterbeziehungen sind, obwohl Sex für sie primär Mechanik darstellt, vollführt mit Callboys, und obwohl ein Kollege erklärt, ihr „fehle eigentlich nur noch ein Penis“, ist ihre Weiblichkeit von großer Bedeutung. Mit ihr wird anders interagiert, ihre Präsenz ist eine Provokation. Sie fordert eine Entlarvung heraus. Männer suchen nach einem familiären Unglück, nach einer Art Origin Story, die sie in den knallharten Karriere-Krieg getrieben hat. Doch sie agiert als vernebelnde politische Zauberkünstlerin, bei der jedes Scheitern genauso gut Teil des nächsten Tricks sein kann. Ein moralischer, emotionaler Kern wird angedeutet, tief unter Schichten des Pragmatismus verborgen, doch eigentlich geht es nicht um eine wie auch immer geartete Enthüllung. Eine letzte Panzerschicht bleibt bestehen, zum Glück: In ihrer endgültigen Dekonstruktion hätte kein Wert gelegen. Das gerade so zu erahnende Pochen eines Herzens ist in diesem Fall spannender als der offene Brustkorb.

Leider ist die Welt um Sloane herum gänzlich uninteressant. In der Praxis wirkt der Film wie eine überlange Folge House of Cards. Jonathan Pereras Drehbuch ist voll von jener Art bemüht cleveren Dialogen, die man heute wohl meist Aaron Sorkin anlastet. Immer wieder wird auf Sloanes Einstiegsrede rekurriert, ein ums andere Mal wird ihr allumfassender Machiavellismus unterstrichen. Auch andere Zeilen kehren zurück, wahrscheinlich, weil dem Zuschauer Wiedererkennungswert als Erfolgserlebnis verkauft werden soll. Getreu dem Motto „Die nächsten Schritte deines Widersachers vorauszuahnen. Gegenstrategien zu entwickeln“ gibt es grandiose Wendung um grandiose Wendung, unterlegt von der pathetischen Musik von Max Richter. Der Zaubertrick Politik ist immer Ergebnis eines einzelnen Akteures. Im Kino ist der Unsichtbare oft machtlos. Eine Bevölkerung, der Demos aus dem Wort Demokratie, ist selten zu sehen. Das Volk taucht nur als formbare Masse auf, leicht beeinflussbares Objekt größerer Pläne. Selbst die Nebenfiguren, gespielt von Stars wie Mark Strong oder John Lithgow, sind nie mehr als ihre Funktion, Bezugspunkte im System Elizabeth Sloane. Hätte John Madden konsequent sein wollen, er hätte nur eine einzige Schauspielerin gebraucht.
 

Die Erfindung der Wahrheit (2016)

Das Kino kennt viele Strategien, Macht darzustellen. Eine davon ist, einer Figur die Herrschaft über das Bild zu geben. Wenn sich Jessica Chastain als Lobbyistin Elizabeth Sloane in der ersten Einstellung von „Die Erfindung der Wahrheit“ zur Kamera dreht und die stählern durchdringenden Augen aufschlägt, frontal gefilmt in der Mitte des Bilds, die Haare bewusst ein wenig asymmetrisch, so dass eines ihrer Ohren frei und das andere verborgen liegt – dann ist sie unmissverständlich als mächtig zu erkennen.

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Meinungen

wignanek-hp · 17.01.2018

Was ist das für eine Frau! Wie sie hier den graumelierten Herren in den dunklen Anzügen zeigt, was eine Harke ist, ist schon fantastisch. Ich möchte sicherlich nicht mit ihr befreundet sein oder mit ihr arbeiten müssen, aber bewundern, ja das tue ich. Sie spielt mit diesen genannten Herren in einer Liga und ist einfach besser! Ich kann verstehen, dass das verstört. Sie entspricht einfach nicht den Rollenklischees. Natürlich ist der Film auf sie zugeschnitten. Wie sollte er auch anders funktionieren! Und mal ehrlich, ihren Gegenspielern noch mehr Raum einzuräumen, wäre fatal. Es reichen doch die paar gesetzten Sätze, mit denen sie ihren Hass auf den Gegner und hier die Frau insbesondere heraushauen, um zu zeigen, wes Geistes Kind sie sind. Die Konstellation erinnert mich an den Film „The Battle of the Sexes“ wo auch nicht das Würstchen Bobby Riggs, der alles nachplappert, was opportun erscheint, der Gegner der Frauen ist, sondern der feine Herr im Nadelstreifenanzug, der genug Geld und Macht besitzt, die von den Frauen angestrebten Veränderungen mit einem Federstrich zunichte zu machen. Auch hier genügten ein paar Szenen, um das deutlich zu machen. Und dass wir über die Motivation von Miss Sloane so wenig erfahren, hält den Film in einer guten Schwebe. Sie ist halt nicht das bemitleidenswerte Ding, das selbst ein Massaker erlebt hat und daraus seine Motivation zieht. Vielleicht? Sie zieht ihr Ding durch bis zum bitteren Ende und das ist einfach bewunderungswert!