Medea (1969)

Eine Filmkritik von Stefan Otto

Eine Frau sieht Rot

„Von allen ungesehen, schwebte hoch in der Luft ein Liebesgott, er zog einen Pfeil aus dem Köcher, senkte sich unsichtbar zur Erde nieder, und hinter Jason zusammengekauert, zielte er auf die Königstochter Medea. Ihr brannte bald der Pfeil in der Brust. Sie musste tief Atem holen; von Zeit zu Zeit warf sie heimliche Blicke auf Jason; alles andere war aus ihrem Bewusstsein verdrängt.“ Jason will von seinem Onkel Pelias den Königsthron zurückerobern. Zu diesem Zweck muss er ihm das Goldene Vlies beschaffen, das Fell eines großen geflügelten Wunder-Widders, das in einem Tempel hängt. Medea hilft Jason, es zu rauben. „Zum Lohn führe ich sie als meine rechtmäßige Gemahlin nach Hause“, verkündet er den Argonauten. Das Paar heiratet. Medea gebärt zwei Söhne. Sie lebt als Fremde in Korinth, wohin sie mit Jason geflohen ist. Von den Korinthern wird sie verachtet, von Jason verstoßen und durch die jüngere, sozial konforme Glauke, die Tochter des Königs von Korinth, ersetzt. „Verzweifelt irrte Medea in dem Palast ihres Gatten umher. ‚Wehe mir‘, rief sie, ‚was soll ich länger leben? Möchte der Tod sich meiner erbarmen! O Vater, o Vaterstadt, die ich schimpflich verlassen habe! O Bruder, den ich gemordet und dessen Blut jetzt über mich kommt! Aber mein Gatte Jason durfte mich nicht strafen, denn nur für ihn habe ich gesündigt! Göttin der Gerechtigkeit, mögest du ihn und sein junges Kebsweib verderben!‘“

Nach Edipo Re (1967) lieferte Pier Paolo Pasolini mit Medea (1969) die zweite eigenwillige Verfilmung eines antiken Stoffes. „Medea ist die Konfrontation der archaischen, hieratischen, klerikalen Welt mit der Welt von Jason, einer im Gegensatz dazu rationalen und pragmatischen Welt. Jason ist der zeitgenössische Held, der nicht nur seinen Sinn für das Metaphysische verloren hat, sondern sich auch diesen Überlegungen nicht einmal mehr stellt“, erklärte er und deutete das Drama von Euripides als Tragödie des Menschen zwischen barbarisch-sakraler und zivilisiert-rationalistischer Kultur. Pasolinis archaisches Ethno- und Antiken-Drama, das mit wenigen Dialogen auskommt, lebt von der Exotik seiner Kostüme, der Physiognomien und seiner Schauplätze, ungeheuerlichen Landschaften und Behausungen. Maria Callas spielt die Titelrolle, singt aber nicht. Dafür besteht der Soundtrack aus lauter Geklingel, Gerassel und Gedröhne.

Interessante Extras enthält die zweite DVD: Medee Passion — Souvenirs d’un Tournage, eine halbstündige Dokumentation, in der Mitwirkende sich an die Medea-Dreharbeiten erinnern, zahlreiche, auf Zwischentiteln sehr ausführlich kommentierte geschnittene Szenen (mit den Zwischentiteln über 30 Minuten lang!), die 2004 in einem Archiv entdeckt wurden sowie, in Spielfilmlänge, die Callas-Dokumentation Maria, in der Medea freilich nur eine marginale Rolle spielt.
 

Medea (1969)

„Von allen ungesehen, schwebte hoch in der Luft ein Liebesgott, er zog einen Pfeil aus dem Köcher, senkte sich unsichtbar zur Erde nieder, und hinter Jason zusammengekauert, zielte er auf die Königstochter Medea.

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