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Wölfe, Wolfskinder, tiefe, tiefe Wälder: „Mär“ bemüht sich, die mythische Märchenwelt aus der Realität abzuleiten, wenn sich ein Mann auf den Spuren des Wolfes selbst verliert: Pro-Wolf-Aktivisten und Wolf-Hater verbeißen sich. Ob das wohl filmisch gelingen kann?

Mär (2019)

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Böse Wölfe

Die Wölfe sind los. Nein, nicht die echten, die sich inzwischen immer mehr in Deutschland verbreiten, sondern die mythischen, die aus dem Märchen. Die bösen Wölfe.

Diese Prämisse setzt der Film voraus: Dass der Wolf böse ist, weil er direkt und konkret dem entspricht, was die Brüder Grimm über ihn geschrieben haben. Dabei spielt die Handlung von Mär durchaus in einer Welt, die der Realität, wie wir sie kennen, gleicht. Ein Mann reist aus Wien ins Ruhrgebiet, als Journalist will er über die dortigen Wolfsvorkommen schreiben, und er verfängt sich im Mythisch-Mystischen, verliert sich in den Mären von Wölfen und Wolfskindern und von unheimlichen Gefahren, die in den Wäldern lauern. Und Wald: Wald gab es hier einst überall, auch wenn er jetzt adretten Siedlungen gewichen ist.

Das große Problem des Films ist, dass er das Mythische etablieren will aus dem Realen, dass aber auch im Realen die Wölfe vorhanden sind, man hört es immer wieder in den Nachrichten, und dass diese realen Wölfe halt nix mit den mythischen, die der Film uns glauben lassen will, zu tun haben. Da gibt es dann die Bürgerinitiative „Wir sind der Wolf“, und der gehören alle an, die sich für rechtschaffene Bürger halten: Besorgte Bürger, besorgt um den Wolf, dieses so schöne und so intelligente Tier. Wer den Wolf weghaben will, wird von den Nachbarn geschnitten und von den Pro-Wolf-Typen gemobbt. Dass in der ganzen Wolfsfrage neben der Märchen-Ebene, auf die Mär abzielt, auch tatsächlich eine ökologische lauert und insbesondere eine politische, blendet Regisseurin Katharina Mihm komplett aus. Was mehr als naiv ist.

Denn die, die in der Realität den Wolf vehement weghaben wollen, weil sie an den Märchenwolf glauben: Das sind die AfD-nahen Kreise, die sich genauso benehmen und genau dieselben Methoden und Sprüche draufhaben, wie Märs Pro-Wolf-Bürger. So dass es zu einer unguten Umkehrung kommt: Die „Guten“ im Film sind die mit konservativ-reaktionärem AfD-Weltbild, die „Bösen“ sind die Fortschrittlichen, die den Wolf nicht von Grund auf ablehnen.

Dass der Film auch schlecht gespielt ist, dass die Dialoge hölzern sind: geschenkt. Die Handlung an sich hätte schon was hergemacht: Durch einen Unfall aufgehalten und ins Krankenhaus gefesselt, verliert sich unser Protagonist (Martin Vischer) mehr und mehr in sich selbst – dass er Leo Bernstein heißt, ist eine bezeichnende Nicht-Referenz ohne Ziel zum West Side Story-Komponisten. Unser Bernstein wird nach dem Unfall auch impotent, was ihm eine Menge ausmacht, zumal er seine Liebe zur Wiener Freundin längst der Obsession an den Wolf geopfert hat. In der Nähe des Unfallorts Wolfs-Bissspuren an einem Tier, und immer wieder diese merkwürdige Frau im Hotel, und dieser seltsam verwilderte Junge an der Bushaltestelle…

Aber nie kann sich wirklich eine märchenhafte Welt transzendieren, nie kommt ein wirkliches Gefühl fürs Irreale zum Tragen: In Märchen hat das Irreale ja über das Symbolische ganz viel, nein: alles mit der Realität zu tun; in Mär, der sich so bemüht, aus der Wirklichkeit das Irreale abzuleiten, hat gar nichts mit irgendwas zu tun.

Mär (2019)

In einem dystopischen Deutschland reist der Journalist Leo Bernstein von Wien ins Ruhrgebiet, wo es angeblich wieder Wölfe gibt. Er will herausfinden, warum die Wiederkehr des Wildtieres auf viele Bürger eine verstörende Anziehungskraft ausübt. Während seiner Recherchen setzen sich Bruchstücke eines Märchens über eine junge Magd, die einen Wolfsjungen geboren hat, in seinem Kopf fest. Leo, der gleich zu Beginn seiner Reise durch einen Autounfall „aus der Spur gerät“, verliert allmählich den Bezug zu seinem Körper und den Kontakt zu seinem früheren Leben. (Quelle: Filmfest München 2019)

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Meinungen

Daniel Philippen · 19.07.2019

Tatsächlich, dieser Film ist eine echte Zumutung. Kein Wohlfühlkino. Keine wohlfeile Märchenstunde, verweigert Erzählung überhaupt: die einzige Erzählung – die Suche eines Reporters nach einer Story – endet, bevor sie noch richtig begonnen hat. Dieser Film ist ein Statement für ein Kino der Bildersprache, der Auslassungen, der Abgründe. Er überwältigt nicht und erklärt nichts, aber fordert mich, hinzuschauen - die Menschen in den Blick zu nehmen, die hier wie aus der Geschichte gefallen zu sein scheinen. Und kommt deren ganzer Verunsicherung beunruhigend nah. Ich war nicht überrascht, aber doch enttäuscht, dass er beim Münchner Filmfest nicht ausgezeichnet wurde. Man kann ihn halt nicht aus den Klamotten klatschen, indem man ihn generös „befördert“. Nein, er bleibt hängen, wirkt nach und führt ins Offene. Ich bewundere den Mut dieser Filmemacherin.

mühlstein · 30.06.2019

Sehr geehrter Herr Mühlbeyer, der Film ist keine platte, herkömmlich erzählte Story, sondern eine subtile Darstellung von Problemen, die nur angesprochen und nicht durchgespielt werden, wie beim Tatort, wo auch der letzte, ohne Nachdenken " konsumiert" Selbstverständlich wird das
BÖSE in seiner vernichtenden Art, dem der Hauptdarsteller zum Opfer wird dargestellt und wer die Sensibilität (SIC!) entwickelt und die feinen Dialoge , die beim genauen Hinhören ( nicht konsumieren ) deutlich sind, hört, der sieht das Aufzeigen von Signalen vor der Gefährlichkeit der Angst, die nicht bearbeitet wird. Ihre Ökologiekritik verstehe ich nicht. Haben Sie die Wälder nicht bemerkt, die filmisch sich aufdrängen? Das ist doch im Gegensatz zu den Reihenhaussiedlungen ein Zeig, dass das Ruhrgebiet kaputtgemacht wurde und vielleicht durch die Ansiedlung der Wölfe eine ökologische Entwicklung wieder macht, als weiteres
Anliegen des Films oder Konsequenz der Rückkehr von Ausgerottetem? Kann es sein, dass Sie sich den Film mit der respektvollen und überdurchschnittlichen Aufmerksamkeit nochmals anschauen mögen, um ihm gerecht zu werden. Es ist ein Film, der ans Denken und Fühlen Anforderungen setzt, um sich von dem allgemeinen Konsumfilm abzuheben. Wie sehen Sie die entfremdete ,- schwarz-weiße Krimesdarstellung in der Rhön. Mir lief es kalt den Rücken runter, als ich diese
Szenen sah in Verbindung mit der Unbedarftheit der Welt. Es ist die Verbindung zwischen den Gutbürgern und dem Bösen, das in eine Betrachtung kommt.. Machen Sie es sich nicht so einfach! Das ist der Grund, warum er
als aboluter Profifilm auch zur Auswahl der Filmfestspiele wurde. Wenn Sie Kritik üben, dann fair und umfassend und nicht nur unangemessen schroff und damit unbehelflich.
Mit freundlichen Grüssen
Mühlstein