Lost Girl - Fürchte die Erlösung

Eine Filmkritik von Christopher Diekhaus

Aus der Bahn geworfen

Obskure Sekten sind im Horror- und Thriller-Bereich ein gern genommenes Sujet, das bei einer halbwegs kompetenten Umsetzung enormen Schrecken verbreiten kann. Gelungen ist dies etwa Ti West, der im Found-Footage-Schocker The Sacrament ein beklemmendes, von realen Ereignissen inspiriertes Szenario entfacht, dem US-Schauspieler Gene Jones als angsteinflößender Guru seinen Stempel aufdrückt. In seinem Spielfilmdebüt, das hierzulande als Lost Girl – Fürchte die Erlösung vertrieben wird, mischt Regisseur und Drehbuchautor Nick Matthews Sekten-Elemente mit einem handfesten Psychodrama, das formal mehr als eine 08/15-Inszenierung bietet und dem Betrachter phasenweise ordentliches Unbehagen bereitet.
Senkrecht schauen wir am Anfang auf Straßenschluchten hinab, während die Namen der am Film beteiligten Personen nacheinander im Bild erscheinen. Ein Einstieg, der ein diffus-bedrückendes Gefühl erzeugt. Im Anschluss lernen wir den Psychiater Travis (Mark Leonard Winter) kennen: einen blassen jungen Mann mit leerem Blick, der – so gesteht er einer Kollegin – davon überzeugt ist, den ihm anvertrauten Menschen nicht helfen zu können. Desinteressiert geht er seiner Arbeit nach, wirkt seltsam abwesend, manchmal wie weggetreten und lässt sich, als er von einem Patienten provoziert wird, zu einer Handgreiflichkeit hinreißen. Nach diesem Vorfall taumelt Travis erst recht in eine gefährliche Abwärtsspirale inklusive exzessivem Alkoholkonsum. In seiner Verzweiflung nimmt er irgendwann an einer Informationsveranstaltung einer undurchsichtigen Selbsthilfegemeinschaft teil, die auf einer Farm unter der Führung eines ehemaligen Soldaten (Steve Le Marquand) lebt, den alle nur Father Jay nennen. Nach dem Treffen, das Travis aufgebracht verlassen hat, begeht er einen Selbstmordversuch, wird allerdings in letzter Minute von Mitgliedern der Sekte gerettet und findet sich nur wenig später auf ihrem abgelegenen Anwesen wieder.

Warum der Protagonist vollkommen aus der Bahn geschleudert wird, entblättert das von Matthews und Craig Behenna (tritt auch als Sektenjünger in Erscheinung) verfasste Drehbuch vor allem in grünstichig-düsteren Rückblenden, die sich wie schmerzhafte Erinnerungen in das Geschehen hineinfressen: Eine Patientin, die seine Nähe sucht und erkennt, dass der junge Arzt hoffnungslos überfordert ist, hat sich das Leben genommen, was den ohnehin verunsicherten Travis vollends in die Krise schlittern lässt. Der Zuschauer muss einige Zweifel beiseiteschieben, um akzeptieren zu können, dass der Psychiater nach seiner Ankunft im Lager der Gemeinschaft selbst unter Berücksichtigung seines erschreckend labilen Zustandes nicht rasch das Weite sucht. Immerhin wird er von Jay und seinen Handlangern entführt und kommt schon bald in den Genuss der fragwürdigen Heilmethoden, die der Guru seinen Anhängern auferlegt. Travis und seine Mitstreiter sollen den Feind in sich bekämpfen und über den Schmerz zu ihrem wahren Ich gelangen. Ein Prozess, der von gewaltsamen Ritualen begleitet wird. Besonders einprägsam und unheimlich ist die Passage, in der Travis seine Wut und seinen Selbsthass an einem Box-Sack auslässt. Mark Leonard Winter, der die Orientierungslosigkeit seiner Figur überzeugend und eindringlich vermittelt, spielt sich in dieser Szene die Seele aus dem Leib und beschwört auf diese Weise eine derart unheimliche Stimmung, wie sie manch ein Horrorfilm nicht hinbekommt.

Auch wenn die anderen Mitglieder der Kommune Typen ohne nennenswerte Profile bleiben, zeigt Lost Girl recht anschaulich, wie Sekten im Inneren funktionieren. Verzweifelte, suchende, von der Gesellschaft ausgestoßene Menschen ohne starke Bindungen werden fernab der Zivilisation isoliert und indoktriniert, bis sie nicht mehr erkennen, dass sie keine persönliche Freiheit erlangen, sondern sich in eine gefährliche Abhängigkeit begeben. Die Gruppendynamik baut Druck auf und sorgt dafür, dass niemand aus der Reihe tanzt. Auch Travis gibt sich eine Weile dem Glauben hin, bei Father Jay Erlösung von seinen Qualen zu finden. Erst eine grausige Erkenntnis zerstört das Vertrauen und bringt eine Eskalation ins Rollen, die uns aus ähnlich gelagerten Werken und nicht zuletzt der Realität vertraut ist. Präsentiert sich das mit schummrigen Erinnerungsfetzen, Tonverfremdungen und ausgeblichenen Farben arbeitende Spielfilmdebüt lange Zeit als trostlos-finstere Studie eines entgleisten jungen Mannes, wandelt Matthews gegen Ende deutlicher auf Thriller-Pfaden. Spannung und Dramatik steigen spürbar an. Und obwohl die Entwicklungen etwas gehetzt bzw. unsauber konstruiert daherkommen, verliert man das Interesse an der Geschichte nicht.

Lost Girl - Fürchte die Erlösung

Obskure Sekten sind im Horror- und Thriller-Bereich ein gern genommenes Sujet, das bei einer halbwegs kompetenten Umsetzung enormen Schrecken verbreiten kann. Gelungen ist dies etwa Ti West, der im Found-Footage-Schocker „The Sacrament“ ein beklemmendes, von realen Ereignissen inspiriertes Szenario entfacht, dem US-Schauspieler Gene Jones als angsteinflößender Guru seinen Stempel aufdrückt.
  • Trailer
  • Bilder

Meinungen