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Für sein Langfilmdebüt, das 2017 in Venedig in der Sektion „Orizzonti“ seine Premiere feierte, erhielt Alireza Khatami dort gleich 4 Preise. „Los Versos del Olvido – Im Labyrinth der Erinnerung“ ist eine poetische Reise zu den Sünden der Vergangenheit, wie man sie viel zu selten unternimmt.

Los versos del olvido - Im Labyrinth der Erinnerung (2017)

Eine Filmkritik von Falk Straub

Lebendige Erinnerung

Eine Erinnerung lässt Alireza Khatami nicht los. Im Ersten Golfkrieg aufgewachsen, bekam er hautnah mit, wie der Sohn seiner Nachbarn wie so viele Soldaten spurlos verschwand. 15 Jahre hofften dessen Eltern auf seine Rückkehr, bis sie schließlich einen einzelnen Stiefel begruben. Khatami hat diese und andere Ereignisse in seinem Langfilmdebüt zu einem kunstvollen Teppich aus Trauer und Schuld, Erinnerung und Vergessen verwoben. Um seine Geschichte erzählen zu können, musste er den Kontinent wechseln.

Wo der alte Friedhofswärter (Juan Margallo) seinen Dienst verrichtet, wird nie erwähnt. Die letzte Ruhestätte, auf der er einsam seine Kreise zieht, liegt in Chile. Sie könnte genauso gut in Argentinien oder Spanien, in Italien oder Deutschland oder in Khatamis Heimat Iran verortet sein; überall dort, wo Diktaturen Menschen verschlucken und die Nachgeborenen die Erinnerung daran allzu leichtfertig ausradieren.

Der Alte kann nicht vergessen. Er erinnert jeden seiner 7686 Arbeitstage, jedes der bald 1000 Gräber, das der blinde Bestatter (Tomás del Estal) ausgehoben hat, der nur dann schaufeln kann, wenn er die Lebensgeschichte der Verstorbenen kennt. Selbst einen Brief, den der Friedhofswärter während einer lange zurückliegenden Inhaftierung für einen Mitgefangenen verfasste, kann er rezitieren, als er dem einstigen Leidensgenossen über den Weg läuft. Nur Namen, selbst sein eigener, rutschen ihm aus dem Gedächtnis. Welch grandioser Einfall! Und welch tolle Szene, wenn der Greis seinem jüngeren Gegenüber die verdrängte Vergangenheit zurück ins Gedächtnis rückt. Dieser hat seine Zeit im Zuchthaus nicht nur deshalb vergessen, weil er als Mörder einsaß, sondern auch, weil er dort mit den Schergen kollaborierte.

Mittlerweile herrscht Demokratie. Doch die Sünden der Vergangenheit setzen sich fort. Wahlkampagnen werben damit, das Geschehene endlich ruhen zu lassen. Die Schließung des Friedhofs, mit dem auch das Gedenken an all die Opfer des Regimes begraben wird, ist nur ein weiterer Schritt. Nachts dringen gesichtslose Milizionäre in die Kühlkammer ein und lagern erschossene Demonstranten zwischen, um sie später irgendwo im Nirgendwo zu verscharren. Eine dunkle, nie ganz greifbare Bedrohung. Als sie den Leichnam einer jungen Frau vergessen, nutzt der Friedhofswärter die Gelegenheit zur Trauerarbeit. Er gibt die Ermordete als seine Tochter aus, um ihr ein Begräbnis und einer Fremden (Itziar Aizpuru) einen Abschied zu ermöglichen. Auf der Suche nach ihrer vermissten Tochter kommt sie seit Jahren jeden Tag auf den Friedhof.

„Verse des Vergessens“ lautet der Filmtitel in der wörtlichen Übersetzung. Khatamis Drama ist ein Gedicht. Elliptisch und mit visueller Repetitio erzählt, gleicht es mehr Poesie denn Prosa, vereint aber auch die Traditionen kafkaesker Kurzgeschichten, des absurden Theaters und des magischen Realismus. Alireza Khatami inszeniert das ganz still und sanft mit einem feinen Gespür für kraftvolle Kadrierungen. Die von Antoine Héberlé in Pastelltönen komponierten Einstellungen lassen sich offen interpretieren, ohne ihre Mehrdeutigkeit in den Vordergrund zu drängen. Khatamis Drehbuch erfindet dafür wundervoll wundersame Bilder.

Regen fällt in geschlossenen Räumen. Wale stranden und fliegen durch die Luft. Die Mühlen der Bürokratie führen den Protagonisten tief hinunter in ein vollgestelltes Kämmerlein. Hier sitzt ein Verwaltungsbeamter (Julio Jung), der die Bestattungen genehmigt. Alle paar Minuten klingelt ein anderer Wecker. Warum er sich all die Uhren gestellt hat, erinnert er nicht. Und unter dem Leichenschauhaus hat der Friedhofswärter ein riesiges Archiv angehäuft. Ohne Strom durchforstet er es mit einer Kerze in der einen und einem Faden in der anderen Hand, um wie Theseus wieder herauszufinden. Die Milizionäre mauern ihn dort ein. Doch die Erinnerung, das lehrt Alireza Khatamis bestechendes Debüt gleich mehrfach, ist nicht totzukriegen.

Los versos del olvido - Im Labyrinth der Erinnerung (2017)

Nachdem ein Aufstand brutal niedergeschlagen wurde, befindet sich die Leiche einer dabei getöteten jungen Frau auf dem Friedhof, wo sich ein Bestatter ihrer annimmt und sich auf eine Reise begibt, um ihr ein würdiges Begräbnis zu ermöglichen.

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