Liebe auf der Flucht

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Abschied von Antoine Doinel

Fragt man sich angelegentlich des Titels, wer denn hier auf der Flucht wovor ist und wie sich die Liebe im Angesicht der Flucht gestaltet, fällt der Fokus zweifellos auf Antoine Doinel (Jean-Pierre Léaud), den zunächst tragischen und dann zunehmend komischen Helden des gleichnamigen Zyklus von François Truffaut. Noch immer befindet sich diese in der Filmgeschichte einmalige Figur, die der Regisseur mit seinem ersten Spielfilm Sie küssten und sie schlugen ihn / Les quatre cents coups von 1959 eingeführt und in vier weiteren Filmen innerhalb von zwanzig Jahren mit demselben Schauspieler fortgeschrieben hat, kräftig in Bewegungen, denen nicht selten der Charakter eines Zurückweichens anhaftet. Liebe auf der Flucht stellt den fünften und letzten Teil des Antoine-Doinel-Zyklus dar, der die vorherigen Folgen dieser ungewöhnlichen Reihe in einer Art Gesamtschau Revue passieren lässt.
Immer wieder sind es Ausschnitte aus dem Leben Antoine Doinels als filmische Eigenzitate, die François Truffaut hier in die Geschichte seines mittlerweile 32jährigen Helden integriert, der gemeinsam mit seinen Weggefährtinnen Christine (Claude Jade) und Colette (Marie-France Pisier) die nunmehr zu „guten, alten Zeiten“ heraufbeschworenen Erinnerungen betrachtet. Dass jeder der Drei so seine ganz eigene Sicht und Wertung der vergangenen Begebenheiten favorisiert, ist eine ebenso schlichte wie amüsante und durchaus auch nachdenklich stimmende Finte dieses Films, der den Zuschauer durch die Präsentation der authentisch anmutenden Ausschnitte in die Position des Schiedsrichters darüber katapultiert, wessen Erinnerungen zutreffend sind – und es ist selten Antoine Doinel, der dabei den Zuschlag erhält, auch wenn er im Rahmen seines autobiographischen Romans Liebessalat seine Selbstbehauptungen fixiert hat.

Liebe auf der Flucht beginnt mit der Weigerung Antoine Doinels, seiner im Grunde glücklich verlaufenden Beziehung zu der jungen Sabine (Dorothée) eine praktische Basis im Alltag zu verleihen. Zwar nächtigt er regelmäßig bei ihr, doch am Morgen zieht es ihn zurück in seine eigenen vier Wände, um sich für den Tag zu rüsten, denn seine Sachen lässt er bewusst zu Hause – eine Haltung, die er in geradezu verzweifelt bemühter Unabhängigkeit verteidigt. Beinahe vergisst er den Scheidungstermin mit Christine, und ihren gemeinsamen Sohn Alphonse (Julien Dubois) mag er seiner Freundin Sabine so gar nicht gern vorstellen. Antoine gliedert sein Leben offensichtlich in voneinander getrennte, übersichtliche Bereiche, auf deren Parallelität er einigen Wert legt.

Als er zufällig auf dem Bahnhof seiner einstigen Jugendliebe Colette begegnet, die seine Gefühlswelten in Antoine und Colette / Antoine et Colette nachhaltig beherrscht hat, springt er spontan in den Zug, mit dem sie reist, ohne zu ahnen, dass Colette den Bruder seiner Freundin Sabine, Xavier (Daniel Mesguich) liebt, mit dem sie sich gerade zerstritten hat. So abrupt das Zusammentreffen von Colette und Antoine auch endet – das turbulente Wiedersehen bremst bei beiden die launischen Fluchtversuche, so dass sie sich bald jeder für sich dazu entschließen, dieses Mal alles in die Waagschale zu werfen, um die Beziehungen zu ihren Partnern vollständig zu bejahen und damit letztlich zu retten.

Für den Goldenen Bären der Berlinale 1979 nominiert und 1980 mit einem César für die Beste Filmmusik von Georges Delerue ausgezeichnet, stellt Liebe auf der Flucht den gleichermaßen heiteren wie harmonischen Abschied François Truffauts von seiner fiktiven Figur des Antoine Doinel dar, welcher er einige seiner persönlichen Lebenserfahrungen in die Rolle geschrieben hat. Sicherlich ist es schwierig, diesen letzten Teil des Antoine-Doinel-Zyklus ohne Vorkenntnisse aus den vorherigen in allen Aspekten nachzuvollziehen, doch auch für sich allein betrachtet erscheint er als charmante französische Komödie mit einer gehörigen Portion Selbstironie.

Betrachtet man die Intensität des Truffaut’schen Debüts Sie küssten und sie schlugen ihn / Les quatre cents coups, so sucht man beinahe vergeblich nach Verbindungen Antoine Doinels zu seinem eigenen Heranwachsen in Bezug auf seinen Sohn Alphonse, der in Liebe auf der Flucht ungefähr neun Jahre alt ist. Zwar ist der erwachsene Held einer tragischen Kindheit im Leben seines Sohnes präsent, doch Priorität haben deutlich seine Amourösitäten sowie andere Aktivitäten. Die nahe liegende Chance, hier eine bedeutsame Linie im Leben von Vater und Sohn zu installieren, wurde nicht genutzt, und so flattert der Vater auf der Woge seiner nunmehr bekennenden Liebe zu Sabine dahin. Adieu, Antoine!

Liebe auf der Flucht

Fragt man sich angelegentlich des Titels, wer denn hier auf der Flucht wovor ist und wie sich die Liebe im Angesicht der Flucht gestaltet, fällt der Fokus zweifellos auf Antoine Doinel (Jean-Pierre Léaud), den zunächst tragischen und dann zunehmend komischen Helden des gleichnamigen Zyklus von François Truffaut.
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