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Aussichtslosigkeit macht unberechenbar. Was also ist zu erwarten von einer ganzen Generation, die in eine Welt hineingeboren wurde, deren Untergang schon besiegelt scheint?

L'heure de la sortie (2018)

Eine Filmkritik von Lucia Wiedergrün

Sie sehen was, was wir nicht sehen

Schule, das ist der Ort, an dem Jugendliche zu sich selber finden, sich entdecken und fürs Leben lernen sollen, oder so ähnlich. Gerade in Frankreich mit seinem strengen und elitären Schulsystem ist das aber vor allem ein Ort, an dem entschieden wird, wer einmal die Geschicke des Landes leiten soll und wer nicht. Was passiert aber, wenn diese Jugendlichen, aufgezogen in dem Glauben, einmal über die Zukunft entscheiden zu können, erkennen, dass man sie betrogen hat? Der große Preis ist längst vergeben. Die Erwachsenen haben den Kuchen schon ohne sie aufgegessen. Alle reden über ihre großartigen Perspektiven, obwohl sie doch sehen, dass die Welt keine Zukunft mehr hat.

In einem Pilotprojekt versammelt der ambitionierte Direktor des renommierten St. Joseph Kollegs die klügsten Köpfe in einer Klasse für Hochbegabte. In den Augen der Schulleitung funktioniert dieses Projekt ausgezeichnet, die Schüler*innen halten zusammen und spornen sich gegenseitig zu Höchstleistungen an. Dann passiert etwas Unvorhergesehenes. In der flirrenden Hitze des Hochsommers, man spürt die Luft im Klassenraum stehen, geht der Lehrer durch die Reihen der Schüler auf das Fenster zu und springt. So beginnt School´s Out (L’heure de la sortie) von Sébastien Marnier.

Um den verstorbenen M. Capadis zu ersetzten, wird der agile Ersatzlehrer Pierre Hoffman (Laurent Lafitte) an die Schule geholt. Er soll nicht nur sicherstellen, dass die herausragenden Leistungen der Klasse erhalten bleiben, sondern auch im Blick behalten, ob das traumatische Ereignis psychische Spuren bei den Jugendlichen hinterlassen hat. Schnell stellt er fest, dass Teile der Klasse unter der Führung der zwei Klassensprecher Apolline (Luàna Bajrami) und Dimitri (Victor Bonnel) sich tatsächlich seltsam verhalten, doch ist dafür wirklich der Selbstmord des M. Capadis verantwortlich?

Aus dieser Grundprämisse entwickelt sich ein psychologisches Spiel zwischen der Klasse und ihrem Lehrer. Langsam baut sich daraus eine Spannung auf, die wie das Summen von Hochspannungsleitungen den Film durchzieht. Er schafft es dabei, das zunehmende Misstrauen von Pierre den Jugendlichen gegenüber und deren undurchsichtige Überzeugungen mit dem Gefühl eines heißen Sommertages kurz vor dem Gewitter zu verweben. Jeden Moment droht die Situation zu kippen und man beginnt, sich nach dem Regen zu sehnen und weiß doch von Anfang an, dass dieser keine Lösung bringen wird.

Mit großer Präzision verwebt dieser fantastische Thriller damit eine der großen Paradoxien des Bildungswesens. Die Jugendlichen werden aufgezogen mit dem Versprechen, alles was sie lernen, würde sie auf das Leben vorbereiten, sie weiterbringen, ihnen einen Vorsprung verschaffen im Rennen auf dem Weg zur Spitze der Gesellschaft. Dabei sehen sie, dass Umweltkatastrophen, Krieg und Ungerechtigkeit die Zukunft sind, auf die sie hinsteuern. Das große Misstrauen, welches sie der Erwachsenenwelt entgegenbringen, überrascht daher wenig. Die gleichen Generationen, die sie nicht wegen dem, was sie sind, sondern dem, was sie sein könnten, zu etwas Besonderem erklären, sorgen dafür, dass es bald keine Welt mehr gibt, in der sie überhaupt sein können. In den vorwurfsvoll wortlosen Gesichtern ist die ganze Idiotie einer Welt eingefangen, die ihren Kinder beständig erklärt, sie seien deren höchstes Gut und gleichzeitig so brutal Raubbau an deren Ressourcen betreibt, dass es in der Tat nur Hohn sein kann, mit den Jugendlichen über die Zukunft zu sprechen.

School’s Out findet Wege diesem Wahnsinn ohne jedes Pathos ein Gesicht zu geben. Die Spannung zwischen den Generationen ist greifbar und doch wird sie von niemandem angesprochen. Indem die offene Auseinandersetzung fehlt, überträgt sich das Gefühl des Unbehagens langsam kriechend auf die Zuschauer*innen. Damit macht School’s Out auf beeindruckende Art und Weise eine der größten Leerstellen des öffentlichen Diskurses spürbar. Die vorwurfsvollen Blicke der Klasse verfolgen das Publikum auch noch lange nach dem Film und stellen die Frage: Was nun?

L'heure de la sortie (2018)

Als Professor Capadis vor den Augen seiner Schüler aus dem Fenster springt, bleiben sechs junge Leute merkwürdig teilnahmslos. Pierre Hoffman, der ihn ersetzen soll, bemerkt ebenfalls mit der Zeit das merkwürdige Verhalten der Gruppe und ist schließlich überzeugt davon, dass von ihnen eine große Gefahr ausgeht.

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