Leningrad - Der Mann, der singt

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Die Wut der Proleten

„Schlechtsein ist gut“, brüllt der Sänger auf Russisch ins Mikrofon. Der Mann scheint zu wissen, wovon seine Texte handeln. Meist betrunken, ungepflegt und schlampig, flucht er über alles, was auch nur im Entferntesten nach Arbeit riecht. Trotzdem zählt er zu den erfolgreichsten Underground-Musikern des modernen Russlands. Sergei „Shnur“ Shnurov, Kopf der Punkrock-Band „Leningrad“, ist ein Phänomen. Regisseur Peter Rippl lässt sich von ihm in seiner kraftvollen Dokumentation faszinieren. Der Film ist wie sein Thema: energiegeladen, wild und ruppig.
Die Band „Leningrad“ (nicht zu verwechseln mit den „Leningrad Cowboys“) ist vielleicht das Verrückteste, was der russische Underground im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends zu bieten hatte. Mit ihrer Gossensprache begeisterte sie Junkies wie Intellektuelle, Außenseiter wie Neureiche. Wegen der vielen Schimpfwörter in ihren Texten wurde sie jedoch nur selten im Radio gespielt. Der Bürgermeister von Moskau erteilte den 15 Musikern im Jahr 2003 sogar Auftrittsverbot in der Hauptstadt, weil ihre Texte die Öffentlichkeit beleidigen würden. Im Westen ist „Leningrad“ vor allem durch die „Russendisko“-Veranstaltungen und CD’s des Schriftstellers Wladimir Kaminer bekannt.

Dokumentarfilmer Peter Rippl lernte die wilde Mischung aus Ska, russischer Folklore und Bläsersätzen per Zufall im Jahr 2002 kennen. Er besuchte später eines der wenigen Konzerte der Band in Deutschland und überzeugte „Shnur“ von der Idee, einen Film über die Musiker und ihrer Sicht auf das heutige Russland zu machen. 2006 begleitete das Filmteam die Band zwei Monate lang bei Konzerten in London und Russland.

Es ist die neugierige Haltung, die Rippls Dokumentation so lebendig macht. Der Regisseur lässt sich mitreißen von dem Hunger nach Leben, den Shnur in seiner charismatischen Bühnen-Performance herausbrüllt. Zwar fragt er auch nach den Hintergründen, die die Band so erfolgreich machten. Aber er gibt niemals vor, endgültige Antworten gefunden zu haben.

Über weite Strecken ist Leningrad – Der Mann, der singt daher ein Musikfilm, der von dem vibrierenden Drive der Bläsersätze ebenso lebt wie von der Melancholie eines „Unplugged“-Auftrittes, in der der Sänger mit der Reibeisenstimme die Melancholie der russischen Seele auslotet. Trotz der vielfältigen musikalischen Einflüsse und der Wandlungsfähigkeit ihres Sounds wollen die Mannen um „Shnur“ keine glatten Profis sein. Sondern authentische Proleten, die ihren Schmerz und ihre Lust ungefiltert in Töne umsetzen. „Es gibt nichts Interessanteres als den kleinen Mann“, lautet das Credo der anarchischen Combo. Sie verleiht einem Lebensgefühl Ausdruck, das die Widersprüche des Turbokapitalismus ebenso reflektiert wie eine tiefer grundierte Stimmungslage, die in Osteuropa viel besser verstanden wird als anderswo. Warum „Leningrad“ zur richtigen Zeit am richtigen Ort war, ergründet der Film in Interviews mit Akteuren und Beobachtern, die oft assoziationsreich zwischen die Passagen eines Songs geschnitten werden.

Und dennoch, das Rätsel bleibt. Frontmann „Shnur“ ist eine derart schillernde Figur, dass man nie genau weiß, ob er nun ernst meint, was er sagt, oder nicht. Noch während der Film geschnitten wurde, schlug 2008 die Nachricht wie eine Bombe ein, dass der Gründer die Band aufgelöst hat. Shnur, so hieß es, wolle mit einer neuen Band namens „Rubl“ andere musikalische Wege gehen. Ein Gerücht spricht davon, dass „Shnur“ das Filmprojekt heimlich mit dem Abschied von seiner alten Band verknüpft habe, sozusagen als Denkmal in Zelluloid. Ob an der Sache mit dem Denkmal etwas Wahres ist, weiß nur der Sänger selbst. Zuzutrauen wäre es ihm in seiner undurchsichtigen, selbstironischen Art allemal.

Leningrad - Der Mann, der singt

„Schlechtsein ist gut“, brüllt der Sänger auf Russisch ins Mikrofon. Der Mann scheint zu wissen, wovon seine Texte handeln. Meist betrunken, ungepflegt und schlampig, flucht er über alles, was auch nur im Entferntesten nach Arbeit riecht. Trotzdem zählt er zu den erfolgreichsten Underground-Musikern des modernen Russlands.
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Meinungen

Dimitrij Volcov · 29.05.2010

Der Film ist einfach nur geil, wer die Band Leningrad mag MUSS den Film sehen.

FFF FilmFreundFrankfurt · 26.03.2010

Ein toller Film und Muss für alle, die sich für Musikfilme und/oder die Entwicklungen in Russland in den letzten Jahren interessieren! Leningrad ist als Live-Band einzigartig, und die Konzertaufnahmen sind super, man ist also "fast live" bei den (letzten…) Auftritten der Band dabei. Über die Musik hinaus vermittelt der Film ungewohnte Einblicke in das Leben und Lebensgefühl der postsozialistischen Generation. Unterhaltsam, witzig, mitreißend und interessant - habe mich in einem Film selten so amüsiert und dabei auch noch was Neues erfahren!