Lee Scratch Perry's Vision of Paradise

Eine Filmkritik von Stephan Langer

"Words give I the power"

Für Lee „Scratch“ Perry war Reggae stets mit einem politischen Machtanspruch verbunden. Nach der jamaikanischen Unabhängigkeit vom britischen Empire Anfang der 1960er Jahre suchte die Insel nach einer neuen kulturellen Identität – und Perry war einer der Ersten, der den Rastafari-Glauben mit Popmusik verband und Reggae zum weltweiten Siegeszug verhalf. Er wollte mit Musik zu anderen Zuständen gelangen: der Herzschlag, der Beat vermischt sich mit einem Gefühl und wird zur Musik. Musik wird zur Bewegung und die Bewegung wird dann Realität, so der Plan. Die angestrebte spirituelle Revolution schlug jedoch fehl. Reggae wurde kommerzialisiert und seiner ursprünglichen Bedeutung, kritisch die Machtfrage zu stellen und die Revolution zu predigen, beraubt. Ihr weiter nachzugehen, dabei zu fragen, wie die Welt des Lee Perry nach der Revolution aussehen würde, hat sich der Dokumentarfilm Vision of Paradise von Volker Schaner zur Aufgabe gemacht.
Zur Einstimmung wird direkt eines klargestellt: Lee Perry ist ein Künstler. Als genialer Außenseiter wird er übergroß inszeniert und eingeführt: Bilder von Auftritten, dazu die wuchtige Musik, die einen auf seine Seite zieht. Perry ist ein Prediger, Konzerte seine Messe und das Publikum seine Gemeinde. Hinzu kommen Interviews mit Kollegen wie Adrian Sherwood, Neil „Mad Professor“ Fraser oder auch Irmin Schmidt, Gründungsmitglied von Can, die alle hohe Meinungen von ihm verlauten lassen. Das Schöne dabei und im weiteren Filmverlauf: Perry hält solch pompösen Inszenierungen stand. Indem er sich erst gar nicht um sie kümmert, weil er jeder Inszenierung sofort eine eigene Inszenierung seiner Persönlichkeit zur Seite stellt, dann noch eine und noch eine. Diese eigene große Selbstinszenierung beginnt mit der des Films in Beziehung zu treten, ihr zu widersprechen und sich auch immer selbst zu unterlaufen. Perry mag angefeuert über die Jahre von Rum und Ganja stellenweise etwas wirr daherkommen, aber in seinem chaotischen, unvorhersehbaren Flow bleibt er dabei immer eines: enorm erfrischend.

Schier unglaubliche 15 Jahre hat Regisseur Schaner Perry immer wieder besucht und Aufnahmen gemacht. All das ergibt ein Mosaik an Eindrücken, das im Film von bunten Zwischensequenzen auf eine höhere Ebene gehoben wird: in ihnen wird versucht, die Vision of Paradise in Animationen darzustellen. Stationen der Treffen sind neben Jamaika London, Berlin, Äthiopien und immer wieder Einsiedeln in den Schweizer Alpen, wo Perry zurückgezogen mit Frau und Kindern lebt und sich gleich neben der Pilgerstätte des Klosters von Einsiedeln mitsamt seiner schwarzen Madonna ein ganz eigenes Universum zusammengeschustert hat. Seltsame Objekte hängen vor seiner Garage: unzählige Spiegel, Eimer voller Wasser, bemalte Steine, teils direkte, teils enigmatische Worte und Sätze in Großbuchstaben auf Wänden und Fenstern. Inmitten davon er: mit pink gefärbtem Bart, rot-grün-gelben Haaren, einer Mütze auf dem Kopf mit Davidstern, Kronen, applizierten Spiegelchen und Porträts von sich selbst neben dem des letzten äthiopischen Kaisers und Rasta-Heiligen Haile Selassie.

Vision of Paradise schillert in seiner Mosaikstruktur ebenso wie die Hauptfigur: Er bietet ein Panorama an Eindrücken, gefilmt von Schaner und seinem Team, und über Bilder von Perrys privatem Camcorder, mit dem er nahezu konstant filmt, wenn er nicht mit Musik beschäftigt ist. „Schillern“ ist bei Perrys Persönlichkeit ein Begriff, den man durchaus mal bemühen kann, ohne allzu abgedroschen zu klingen. Weil es einfach bei wenigen so sehr zutrifft wie bei ihm und seinen unzähligen zur Schau gestellten Facetten. Ob diese dann gespielt sind oder nicht, spielt beim schillernden Ergebnis keine Rolle. Perry erschafft durch seine Dauerperformance sich selbst als Figur, die von allen Seiten angreifbar ist, ja, sich zuweilen auch hintersinnig selbst ins Visier nimmt und angreift. Im Abspann steht bei Nennung der vor der Kamera Beteiligten auch nicht wie bei Dokumentarfilmen üblich „featuring“ oder „with“, sondern schlicht „starring“ – wie bei einem Spielfilm, in denen Schauspieler die Figuren spielen. Dabei folgt die Dauerperformance dem scheinbar ständig in seinem Kopf laufenden Band, eine endlose Instant-Kreativität in hoher Geschwindigkeit, in der er seiner assoziativen Intuition freien Lauf lässt und alles gerade Greifbare mit einbindet. Alles ist Material: (selbst) Gesagtes, Regen, Steine, Algen.

Perry bewegt sich ohne Unterlass in seiner eigenen „Vision of Paradise“, einer sehr eigenen Welt, die jedoch immer angekoppelt ist an die kollektive Sicht der Rastafaris in der Diaspora. In seinem Kopf hat er ein komplett eigenes Narrativ geschaffen, einen metaphysischen Kosmos aus Glaube an das Gute, Beats und grimmiger Weltbetrachtung. Das Schreiben einer eigenen Geschichte ist immer auch revolutionäre Strategie. Dadurch, dass man sie selbst schreibt, kann man sie auch jederzeit beeinflussen und neu schreiben. Worte verleihen Macht. Dabei wandelt Perry konstant auf der feinen Linie zwischen bitterem, spirituell fundiertem Ernst und assoziativem, narrenartigem Humor. In jüngerer Zeit hat er sich mehr dem Spoken Word zugewandt. Dabei sitzt ihm immer der Schalk im Nacken, ein Detail, das leider in seiner pompös-lauten und extravaganten Selbstinszenierung oftmals leicht auf der Strecke bleibt. Seine Wort- und Soundassoziationskünste – „I am a fish / my father is neptune / see you later in di moon“ oder „Hatan / the head of Satan“ oder „I’ll tell the queen / you are not in my dreams / you are not on my team“ – sind mit ihrer stellenweise naiv-pubertären Qualität so ungeniert direkt und schlagfertig, dass Perry wohl derjenige ist, der seine Zuhörer am längsten bei der Stange hält, auch wenn er eine halbe Stunde lang nur humorvoll-sinnlosen Quatsch erzählt und sich über alle lustig macht. An anderer Stelle wird sein Humor deutlicher. In den wirklich persönlichen Momenten nämlich, die bei Perry zumindest vor der Kamera selten sind. Dank der Fülle des Materials von Schaner und der Vertrautheit, die die beiden über die Jahre aufgebaut haben, sind solche aber mitzuerleben. Wie er von seiner komplizierten Beziehung zu Bob Marley spricht etwa. Dann wird er in seiner Extravaganz ganz zurückhaltend und still melancholisch.

Lee Perry lebt ein isoliertes Leben dort in den Schweizer Bergen. Seine Frau und seine Kinder sieht man in Vision of Paradise nicht. In Kingston begegnen wir kurz seinem Bruder, der als Dabeigewesener nostalgisch die Vergangenheit verklärt. Viele intime Momente, in denen man eine leichte Ahnung von ihm bekommt, finden bei der Arbeit statt: im Studio mit „The Orb“ in Berlin, als sie sich gerade entstandene Aufnahmen anhören und Perry hellwach und konzentriert Vorschläge für weitere Beatspuren macht, beim gemeinsamen Malen und Improvisieren mit Peter Harris oder wenn er beginnt, Steine, die er just vom Boden aufgehoben hat, aneinander zu schlagen und einen Beat erzeugt, mit dem er einen mühelos in den Bann zieht und der ihn auch selbst wahrlich erfreut. Vision of Paradise schafft etwas Außerordentliches: er hält die Zeit an. Er hält in all seinen Splittern die geballte Zeit von 15 Jahren Arbeit zusammen und stoppt sie, friert sie ein. Das Ergebnis ist der fertige Film, den wir sehen. Mit ihm können wir kurz innehalten und uns dabei gleichzeitig mitreißen lassen vom ansteckenden Strom einer ständigen Neuerfindung und konstanten Überschreibung und Reformulierung der eigenen Persönlichkeit. Von einer Feier des kreativen Blödsinns hin zu religiösen Höhen und zurück. Welch glorioser Rausch.

Lee Scratch Perry's Vision of Paradise

Für Lee „Scratch“ Perry war Reggae stets mit einem politischen Machtanspruch verbunden. Nach der jamaikanischen Unabhängigkeit vom britischen Empire Anfang der 1960er Jahre suchte die Insel nach einer neuen kulturellen Identität – und Perry war einer der Ersten, der den Rastafari-Glauben mit Popmusik verband und Reggae zum weltweiten Siegeszug verhalf. Er wollte mit Musik zu anderen Zuständen gelangen: der Herzschlag, der Beat vermischt sich mit einem Gefühl und wird zur Musik.
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Meinungen

Miss Saint Ann's · 01.04.2016

Jah – Lee Perry fool dem all! Pretty!