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Großstadtfilme durchziehen die Filmgeschichte. Viele davon sind polternd-laut oder spektakulär-überwältigend in Szene gesetzt: Sie suchen gerade nicht den Zauber des Flüchtig-Banalen, den Sobo Swobodnik in seinem melancholischen Alltagsessay „Lebe schon lange hier“ auf faszinierende Weise einfängt.

Lebe schon lange hier (2019)

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Leben vorm Balkon

Alles beginnt mit Clemens Schicks sonorer Stimme. „In Berlin rauchen die Schornsteine. Junge Mädchen mit silbernen Zahnspangen besteigen kreischend die Tram sowie Polizeibeamte mit Schnauzbärten und ein herrenloser Hund.“ Pause. „Alles scheint in Ordnung zu sein. Auf einer Plakatwand ist der Slogan eines Stromkonzerns zu lesen:‚Einfach leben‘. Es wird etwas passieren“, heißt es kurz darauf in Sobo Swobodniks Dokumentarfilmessay „Lebe schon lange hier“ aus dem Off.

Der äußerst umtriebige Dokumentarfilmguerillero (Bastard in Mind / Therapie für Gangster / Der Konzertdealer) hatte 2013 mit der Arbeit an einem „Heimatfilm aus Berlin“ begonnen, wie es zu Beginn seines betont spektakelfreien, aber durchaus soghaften Großstadtpoems auch kurz eingeblendet wird. Seit längerer Zeit lebt der 1966 geborene Schriftsteller (Alles ist anders), Filmemacher und Kinder- und Jugendbuchautor im wiedervereinigten Berlin. Genauer gesagt im dritten Stock einer Altbauwohung im Prenzlauer Berg.

Hier in der Zehdenicker Straße, Ecke Gormannstraße nahe der U-Bahnstation Rosenthaler Platz, lässt er quasi ein Jahr lang das Leben vor seiner Kamera wie vor seinem geistig-inneren Auge vorbeihuschen. Im Grunde ohne einen speziellen Fokus, gänzlich frei von großen Bang- Boom-Bang-Momenten wie sie viele Großstadtepen in der Vergangenheit der Filmgeschichte zelebrierten. Und mit Ausnahme des Alex-Fernsehturms in raren Zwischenschnitten auch vollkommen ohne hauptstadttouristische Fotomotive, wie sie sich in diesem wuseligen, betont internationalen Kiez um den Rosa-Luxemburg-Platz herum zahlreich finden würden.

Vielmehr zehrt Lebe schon lange hier von deutlich impressionistisch motivierten Miniaturen, mal spektakulär unspektakulären Klein- und Kleinstszenen im Botho Strauß’schen „Paare, Passanten“-Modus, die im Grunde (fast) nichts und gleichzeitig doch sehr viel über das heutige Leben eines Großstadtnomaden erzählen. Denn beim flüchtigen Blick durch das Objektiv und dem Drücken des Auslösers seiner Fotokamera sinniert Sobo Swobodnik im Kern dieses angenehm entschleunigten Essays in Schwarzweiß oft genug über sich („Wir zappeln durch das Leben, aber wir leben, solange wir zappeln“), seine prekäre Existenz als Kunstschaffender („Sterben ist auch keine Lösung“) sowie den zunehmenden Gentrifizierungswahnsinn um ihn herum: „Der Prenzlauer Berg ist ein ökoterroristisches Terrain, behauptet Frank Castorf. Womöglich hat er Recht. Kinderwägen als rollende Waffen, junge Mütter als geschminkte Panzerfäuste, Väter mit Dreitagebärten und Benetton-Pullovern: Die Sturmgeschütze der neuen Bürgerlichkeit.“

Zwischen abendlichen Filmprojektionen an Hauswänden, einsamen Männern mit Plastiktüten, Silvesterraketen, David Guetta- und Volksbühnen-Plakaten, vorbeiradelnden Briefträgern und einer tiefenentspannten Streunerkatze, der Sobodniks Film seinen Titel verdankt, entspinnt sich in Kombination mit Till Mertens’ wunderbar vielgestaltigen Musikkompositionen und der assoziativen Montagekunst Manuel Stettners gerade in der vermeintlichen Unstimmigkeit des Dokumentierten vielfach ein besonderer Zauber.

Durchsetzt mit spitzzüngigen Bonmots („Kaufst du noch? Oder bist du bereits pleite?“), die so in vielen Haushalten diverser Kultur- und Kreativschaffenden zu hören sind, banalen Alltagsgeräuschen, die beim Rasieren oder Zähneputzen entstehen und wenigen Radio- oder Fernseh-O-Tönen, in denen auch die scheinbar ewige Bundeskanzlerin Angela Merkel zu hören ist, die gerne „mehr an die Luft gehen“ würde, ist Lebe schon lange hier in toto ein minimalistisches Gesamtkunstwerk.

In dieser faszinierenden Bild-Ton-Musik-Collage, die von einer emphatisch singenden Kinderstimme („Go on the street!“) zusammengehalten wird, geht es eben keineswegs bloß um die Neurosen oder das Palaver eines genervten Berliners aus dem Kunstbetrieb, sondern im Wesentlichen um „die Produktivität des Wartens“, wie es einmal ebenso schön wie treffend heißt. „Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt“ (Peter Handke) wurde im Dokumentarfilmkino zuletzt selten gelungener eingefangen.

Lebe schon lange hier (2019)

Miniatursinfonie einer Großstadt: Eine Straßenkreuzung in Berlin, wie sie in jeder Metropole sein könnte. Der Blick aus dem Fenster. Über ein Jahr lang beobachtet der Film das Treibens der Kreuzung aus einer Wohnung heraus. Die Bilder des externen Geschehens und der Ton aus dem Wohnungsinnern komplettieren, konterkarieren, karikieren sich.

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Meinungen

Werdenfels · 08.03.2019

Sinnlich und kontemplativ