Le Havre (2011)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Aus der Zeit gefallen

Dieses Le Havre, das Aki Kaurismäki in seinem neuen Film zeigt, scheint irgendwie aus der Zeit gefallen. Die abgeschabten Interieurs könnten genauso gut aus den 1950er Jahren stammen, ebenso der Kommissar Monet (Jean-Pierre Darroussin), der mit schwarzem Trenchcoat und ebensolchem Hut geradezu aus einem alten Film entstiegen sein könnte.Dazu die Bar mit dem punktgenau unpassenden Namen „La Moderne“, in der sich Ex-Seebären tummeln, Männer mit harten Gesichtern und weichen Herzen aus purem Gold.

Und natürlich der Schuhputzer und Ex-Bohemien Marcel Marx (André Wilms), dessen Geschäfte zwar wegen der vielen Sneakers, Gummistiefel und Sandalen schleppend gehen, der sich aber dennoch nicht unterkriegen lässt. Auch nicht dann, als seine Frau Arletty (Kati Outinen), mit der ihn eine zwar schweigsame, aber liebevolle Beziehung verbindet, ins Krankenhaus muss. Was Marcel nicht weiß: Die Erkrankung der Gattin ist tödlich, doch der Ehemann, der schon genug eigene Sorgen hat, darf davon nichts wissen.

Und dann ist da plötzlich der Junge aus Afrika (Blondin Miguel), der zusammen mit anderen Flüchtlingen im Hafen von Le Havre in einem Container gestrandet ist und dem als einzigem der Immigranten die Flucht gelingt. Der Junge hat Glück, er stößt ausgerechnet auf Marcel, der ihn bei sich aufnimmt und nun mit allen Mitteln versucht, die (illegale) Weiterreise des Kindes nach London zu organisieren, wo die Mutter des Jungen lebt. Zwar ist die Polizei in Gestalt des Kommissars Monet dem Flüchtling dicht auf den Fersen, doch dank der Solidarität der Menschen aus Marcels Viertel gelingt es immer wieder, den Häschern ein Schnippchen zu schlagen. Zudem erweist sich auch der Kommissar, eine französische Version des Inspectors Columbo, am Ende als butterweich. Und das liegt nicht nur daran, dass die Wirtin der Kneipe in Marcels „quartier“ eine alte Flamme von ihm ist. Sondern auch an dem prinzipiellen Misstrauen der einfachen Leute (und zu denen zählt in der wunderbaren Welt Kaurismäkis auch ein Polizist) gegen die Maßnahmen des Staates.

Aki Kaurismäki war schon immer ein milder Humanist, ein Wertkonservativer im besten Sinne. Und das ist er auch heute noch, erst Recht in seinem neuen, im Wettbewerb des Festivals von Cannes gezeigten Film Le Havre. Im Grunde ist er ein geistiger Verwandter der Brüder Dardenne — interessiert an den Sorgen und Nöten der kleinen Leute, ein Verfechter solch überkommener und gefährdeter Prinzipien wie Freundschaft, Solidarität und Empathie. Der grundlegende Unterschied zwischen dem schweigsamen Finnen und den beiden Belgiern liegt natürlich in der Lakonie, dem grimmigen Witz, dem unverwüstlichen Optimismus, die seine Filme durchziehen. Und weil ihm seine Figuren so grundsympathisch sind, gönnt er ihnen am Ende noch ein echtes Wunder — durch ihr beharrliches Ankämpfen gegen die Unbilden des Lebens, ihr stilles Erdulden und ihre unbedingte Solidarität haben sie sich das auch allesamt verdient.

Nach wie vor sind Aki Kaurismäkis Filme cineastisches Slow Food für die geschundene Kinogängerseele. Die Zutaten (das schleppende Tempo, die typischen Interieurs, die herrlich maulfaulen Dialoge, seine ganz besondere Art, statt der Worte die wunderbar fotografierten Gesichter der Akteure sprechen zu lassen) sind bekannt und kommen aus eigenem Anbau. Das Rezept seit Jahren erprobt und doch schmeckt es immer wieder verlässlich und hat genügend Eigensinn und Profil, um gegen seelenlos durchdesignte Hollywoodprodukte (gewissermassen das Fast Food des Kinos) einen deutlichen Kontrapunkt zu setzen und zugleich einen treffenden Kommentar zur Flüchtlingsproblematik in Europa abzugeben — ohne erhobenen Zeigefinger, aber mit viel trockenem Humor. Ein durch und durch erfreuliches Filmmärchen!
 

Le Havre (2011)

Dieses Le Havre, das Aki Kaurismäki in seinem neuen Film zeigt, scheint irgendwie aus der Zeit gefallen. Die abgeschabten Interieurs könnten genauso gut aus den 1950er Jahren stammen, ebenso der Kommissar Monet (Jean-Pierre Darroussin), der mit schwarzem Trenchcoat und ebensolchem Hut geradezu aus einem alten Film entstiegen sein könnte.

  • Trailer
  • Bilder

Meinungen

Jörg · 14.11.2011

Völlig überraschender, rätselhafter Film mit religiösem Motiv.
In jedem Fall sehenswert.

wignanek-hp · 11.10.2011

Kaurismäki ist zurück, welch ein Glück. Lange hatte man nichts von ihm gesehen oder gehört. Jetzt dieser Film! Kaurismäki gibt dem Kino Sehqualitäten zurück, die das Hollywood-Kino mit seinen schnellen Schnitten und dem oft rasanten Erzähltempo fast vergessen gemacht hatte. Sekundenlange Totale oder Gesichter ohne Regung, eine Zumutung für den Zuschauer, aber eine positive! Endlich kommen die Qualitäten einer Geschichte wieder zur Geltung. Man hat Zeit, sich in das Geschehen einzufinden, die Settings und die Sprache in ihrer Künstlichkeit zu genießen. Dass das Ganze ein Märchen ist, na und! In diesem Film und seinen Figuren steckt mehr Wahrheit als in manchem hochglanzpolierten Melodram.

Cleo Sonntag · 08.10.2011

Eine schlichte aber wunderbare Aki Kaurismäki Komödie, voller berührend schönen und komischen Momenten.
In der ein Handy das einzige Indiz dafür ist, dass der Film in der Gegenwart spielt.
Dafür das nicht wirklich viel passiert macht es grossen Spaß diesen Film anzuschauen.

thierryduhavre · 17.09.2011

Ich kannte den Regisseur nicht (Bildungslücke!). Der Film ist ganz große Klasse. Wer da Action à la Hollywood erwatet sollte tatsächlich nach der Hälfte raugehen. Für mich ist er eine Hymne an meine Heimatstadt mit Menschen, die ich erkannt habe. Sehr ausdrucksvoll, zeigt auch auf eine Problematik. Zeigt auch sehr realistisch die Vorgehensweisen der Polizei dieses Landes...

Harald · 16.09.2011

Langweiliger Sozialromantikkitsch.
Nette Idee, schlecht umgesetzt.
Hätte ich mir den Film ohne Begleitung angeschaut, wäre ich nach der Hälfte rausgegangen.