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Ein junger Mann kehrt zurück auf das Landgut seiner Großmutter, doch die nächste Reise steht ihm schon bevor — und womöglich wird es seine letzte. Denn er plant, als Kämpfer für den IS nach Syrien zu fahren.

L'adieu à la nuit (2019)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Fünf Tage im Frühjahr

Es ist Frühjahr des Jahres 2015 auf dem Landgut von Muriel (Catherine Deneuve) und die reichlich blühenden Kirschbäume versprechen eine reiche Ernte im Sommer. Doch zunächst einmal freut sie sich auf die Rückkehr ihres Enkels Alex (Kacey Mottet Klein), der unterwegs war und nun für einen kleinen Zwischenaufenthalt heimkehrt. Was Muriel allerdings nicht ahnt: Alex ist in der Zwischenzeit zum Islam konvertiert und hat sich durch den Einfluss seiner Freundin Lila (Oulaya Amamra) radikalisiert. Heimlich versuchen die beiden, die auch ein Liebespaar sind, Geld für die Reise nach Syrien zusammenzukratzen, wo sie an der Seite des IS für ein muslimisches Paradies auf Erden kämpfen wollen. Befeuert werden die (selbst)mörderischen Ambitionen der beiden durch Bilal (Stéphane Bak), der als eine Art Mentor des Paares fungiert.

Doch die Zeit drängt und es erweist sich als überaus schwer, die geforderten 6.000 Euro zusammenzubekommen, so dass Alex schließlich Schecks aus dem Schreibtisch seiner Großmutter klaut und diese bei der Bank einreicht. Dies bleibt natürlich nicht unentdeckt und Muriel, die langsam Verdacht schöpft, tut alles, um die gefährliche Reise ihres Enkels zu verhindern. Zuerst versucht sie, ihn mit einem geläuterten früheren IS-Kämpfer in Kontakt zu bringen, doch als auch das nicht fruchtet und Alex sich auf den Weg zum Flughafen macht, alarmiert sie sogar die Polizei und verrät damit letztendlich ihren Enkel, um ihn vor dem Schlimmsten zu bewahren.

Der Titel von André Téchinés Film bezieht sich auf eine Dialogzeile von Alex, in der er sagt, dass sein künftiger Kampf für den IS ihm vorkomme, als würde er das Dunkel der Nacht verlassen und in ein ewiges Tageslicht eintauchen. Das trifft allerdings nicht für seine Motivlage zu, die der Film allenfalls andeutet und sehr als Konglomerat verschiedenster Ursachen anlegt: Da ist etwa der Tod von Alex’ Mutter, der ihn schwer getroffen haben muss, der allerdings auch schon neun Jahre zurückliegt. Hinzu mag wohl auch das zerrüttete Verhältnis zu seinem Vater kommen, der in Kanada lebt und längst eine neue Familie hat. Und zuletzt ist da auch noch die Freundschaft und Liebe zu seiner Kindheitsfreundin Lila, die der Film neben Bilal als eigentlich treibende Kraft darstellt. Aber reicht das alles schon aus? Macht dies die wohl rasche Radikalisierung von Alex wirklich greifbar und verstehbar? Ein weiteres Motiv verankert das Drehbuch, an dem neben dem Regisseur auch Léa Mysius (Ava) mitwirkte, in Lila, die bei ihrer Arbeit als Altenpflegerin den respektlosen Umgang der dekadenten westlichen Gesellschaft mit den Schwachen, Alten und Kranken am eigenen Leibe erfahren hat (von ihren eigenen Erfahrungen als Französin mit nordafrikanischen Wurzeln hingegen spricht der Film nicht), und die in der vermeintlichen Menschenfreundlichkeit des radikalen Islam eine erstrebenswerte Alternative zu Kapitalismus und Demokratie sieht. Bilal aber, der der bei weitem radikalste des Trios ist, kann nicht auf so viel Empathie hoffen  — und das ist die wirklich bittere Pille, die man bei diesem Film schlucken muss: Der hellhäutige Junge aus gutem Hause wird psychologisch zumindest oberflächlich ausgeleuchtet, die Araberin ist bestenfalls verblendet und der dunkelhäutige junge Mann bedarf keiner Begründung, um einfach so als fanatisierter potenzieller Mörder gezeigt zu werden.

Weil Téchiné dies alles zudem denkbar brav und bieder inszeniert, wirken seine Argumentationsketten und Erklärungsversuche kaum überzeugend und viel eher so, als arbeite sich das Drehbuch an einer soziologischen Checkliste ab, vergesse aber, den emotionalen Kern einer Radikalisierung vor allem auf der Gefühlsebene (be)greifbar zu machen.

Selbst wenn der IS nun nach Verlautbarungen der USA geschlagen zu sein scheint (was zu bezweifeln ist); Filme wie L’adieu à la nuit helfen nicht weiter beim Verstehen des Phänomens, dass sich Tausende junger Leute aus Europa auf den Weg nach Syrien und in den Irak machten, um dort im Namen Allahs zu töten und zu wüten.

L'adieu à la nuit (2019)

Was kann man tun, wenn ausgerechnet die Person, die man am meisten liebt, zum Staatsfeind wird? Das ist genau das Dilemma, in dem sich Muriel mit ihrem Enkel Alex befindet.

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Meinungen

Martin Zopick · 17.02.2022

Der Altmeister André Téchiné hat ein brisantes Thema aufgegriffen und mit dem euphemistischen Titel gleich deutlich gemacht, wie realitätsfern junge Leute sind, wenn sie sich blauäugig dem Islamismus anschließen. Damit erschöpft sich aber schon Kritik am Islam.
Großmutter Muriel (Catherine Deneuve) bekommt von ihrem Enkel Alex (Kasey Mottet Klein) einen Abschiedsbesuch. Der will angeblich nach Kanada, ist aber inzwischen zum Islam konvertiert und wird nun mit seiner Freundin Lila (Oulaya Amamra) nach Syrien fahren. Dieses Geheimnis wird vom Drehbuch scheibchenweise gelüftet. Muriel, die ihren Enkel sehr liebhat, will die Gründe verstehen. Doch Alex schweigt. Als die Kids sie um 6000,-€ beklauen, was für Islamisten legal ist, weil man das Geld ja von Ungläubigen nimmt, wird Muriel hellhörig. Regisseur Téchiné hält sie und die Zuschauer auf dem gleichen Wissensstand. Ihr und uns fällt auf, Alex geht nicht zur Wahl, trinkt und raucht nicht, fälscht Omas Unterschrift, was ja ebenfalls legal ist.
Muriel trifft Fouad (Kamel Labroudi) einen Freund von Alex, der eine Fußfessel tragen muss. Fouad versucht ihr die Gedankenwelt ihres Enkels verständlich zu machen. Er selbst gehört längst nicht mehr dazu. Andererseits wird Alex außer von Freundin Lila noch vom Prediger Bilal (Stéphane Bak) gedanklich bearbeitet. Als Muriel erkennt, dass sie ihn nicht von seinem Plan abbringen kann, sperrt sie Alex im Pferdestall ein.
Er ist nach seinen eigenen Worten auf ‘dem Weg von der Dunkelheit zum Licht‘ (Titel!). Das Pärchen kann entkommen. Auf dem Weg zum Flughafen werden sie von der Polizei verhaftet. Muriel hat einen Nervenzusammenbruch.
Von den Beweggründen für das Verhalten von Alex gibt es nur vage Andeutungen auf Kindheit und Elternhaus. Der Zuschauer wird alleingelassen und findet auch im Film keinerlei Hinweise für Erklärungen oder Lösungsmöglichkeiten. Der letzte Ratschlag der Polizei lautet ‘Schreiben sie ihm doch einen Brief.‘ Damit wird das Problem völlig verkannt, bestenfalls verharmlost. Téchiné scheute offenbar Konsequenzen oder allenfalls einen Ausblick. Hat er etwa kalte Füße bekommen und schreckt vor seiner eigenen Courage zurück? Schade. Da war mehr drin.